Interview mit Dr. Wilfried Spaar - Teil 4

 

NL 98 Spaar
Das letzte Bild aus der Akademiestraße: Dr. Wilfried Spaar in der Interimsbibliothek im Mai 2019, Foto: Julia Huynh

 

MM: Und, Modernes oder Klassisches Chinesisch? Womit beschäftigen sie sich lieber?

WS: Da habe ich genauso keine Präferenzen. Also quasi ein Spezialgebiet für mich ist das was man als mittelalterliches Chinesisch bezeichnet, also speziell die Sprache der Dichtung des 6ten bis 10ten Jahrhunderts. Das hängt noch mit dem Studium zusammen, da der Alfred Hoffmann, der war Spezialist für das Klassische der späteren Tang. Daraus ist später dann auch sein berühmtes Übersetzungsbuch entstanden. Das hat mich also auch sehr beeindruckt, wie dieser alte Herr einfach so, ohne etwas groß vorbereitet zu haben, ohne Vorlesungsskript, einfach so unterrichtet hat. Er hat dann für seine Schüler auch Bücher aus Japan bestellt, er hat immer auf japanische Ausgaben bestanden. Wir haben dann die Bücher bekommen und er fing dann einfach so an zu improvisieren. Er hat die Texte, da es ja auch um gesungene Sprache ging, dann auch vorgesungen. Er hat das gelernt in Japan, und er konnte das ebenso. Und dann hat er diese Sachen eben erklärt, mit einem Hintergrundwissen, das wirklich beeindruckend war.

Alfred Hoffmann, dem hätten sie eine Volkszeitung auf den Tisch gelegt und er hätte ihnen die Artikel vorgelesen im damals gegenwärtigen Chinesisch. Der einzig andere der das noch konnte war der Wolfgang Franke, der Sohn von Otto Franke. Der hatte eine chinesische Ehefrau und konnte auch richtig Chinesisch. Und nur zwei Leute konnten sich mündlich, auf Chinesisch, verständigen. Professor Hoffmann und Professor Franke. Alle anderen deutschen Sinologen waren dazu nicht in der Lage.

MM: Sie sagten, “das, was man damals als Standard-Chinesisch wahrgenommen hat”?  Haben sie denn mitbekommen wie sich das im 20ten Jahrhundert noch verändert hat?

WS: Ja sicher, der Sprachwandel ist ja vor allem im Wortschatz enorm.  

Man könnte zum Beispiel ein Wörterbuch aus den 60er Jahren mit einem beliebigen Zeitungstext — das muss kein naturwissenschaftlicher oder technischer Text sein — mit irgendeinem beliebigen Wirtschafts- oder Politik- Zeitungstext vergleichen und ich würde schätzen, dass da nur etwas mehr als die Hälfte des Vokabulars abgedeckt wird. Da hat sich schon sehr sehr viel getan, gerade auch durch die technologische Entwicklung seit Mitte der 60er Jahre.

Ich weiß noch, 1974/1975 hatten wir schon Computer an der Uni, da konnten wir ran. Wir haben dann nachts immer so Rechnerzeit bekommen:  “Heute Nacht von 3 Uhr bis 3.05 hast du 5 Minuten.” Da durfte man dann rechnen. Das muss man sich so vorstellen: wir haben programmiert, Fortran und Algol, was anderes gabs noch nicht. Es gab Computer, es gab Tastaturen, aber es gab zum Beispiel keine Bildschirme. Die gab es nicht, das wurde alles mit Lochstreifen gemacht.

MM: Was haben Sie da berechnet?

WS: Meistens ging es darum, dass das was man programmiert mit der Maschinensprache übereinstimmt, dass das passt. Ich wollte damit nur sagen diese ganze archaische Umgebung, die gab es schon. Die Entwicklung der Computer wie wir sie heute alle kennen, das kam erst in den 80er Jahren. Ich erinnere mich noch, eines Morgens kam ich ins Büro, und dort stand eine Kiste auf der IBM stand. Ich hab dann gemeint “hier steht eine Kiste, die hab ich nicht bestellt” und die Sekretärin meinte dann “ach, die bekommt jetzt jeder!”. Und so bin ich an meinen ersten IBM Computer bekommen, der stand eines Tages einfach im Büro.

MM: Das ist ja spannend. Haben sie so etwas wie ein liebstes Wörterbuch, oder ein liebstes Chinesisch Lehr-Lernbuch?

WS: Ach da hab ich einige. Bekannt ist, das sag ich auch immer wieder im Unterricht, dass ich gerne mit Wörterbüchern arbeite, nicht mit Online-Hilfsmitteln. Bei denen wurde ich in der Regel eher enttäuscht. 

Einige Sachen benutze ich schon, aber ich mag zum Beispiel das Wörterbuch von Lin Yutang 林語堂 (1895–1976), das ist ein Hilfsmittel, das vor allem für touristisches oder belletristisches Chinesisch bis heute unschlagbar ist. Ich mag auch die Figur, also den Verfasser, die historische Figur die dahinter steht, er hatte viel auf Englisch und Chinesisch gleichermaßen geschrieben. Etwas was wenig bekannt ist: Das Lin Yutang Wörterbuch geht zurück auf ein Glossar. In einem seiner populäreren Werke hat Lin ein Glossar an Termini angelegt zur Rezeption von Kunstwerken, also ästhetische Termini im Chinesischen. Das ist der Kern des Wörterbuchs. Das Handgeschriebene des Wörterbuchs, da hat er mit Zettelchen gearbeitet, also mit größeren Karteikarten. An seiner alten Residenz, die von einer Privatuni in Taipei betreut wird und die man auf dem Weg zum Yangmingshan beim rauffahren sieht, da geht es jedenfalls zur Lin Yutang Residenz. Und dort gibt es ein speziellen Raum wo also das Manuskript des Wörterbuches aufbewahrt und gezeigt wird. Er hat also wirklich so 10,000 große, ca DINA3- DINA4, Karten mit der Hand selbst geschrieben. Und auf Basis dieser Karten ist das Wörterbuch hinterher gesetzt worden.

MM: Ich habe gehört, dass sie beim Xinhua Zidian 新華字典 auch so vorgegangen sind.

WS: Das ist möglich, so genau weiß ich das aber nicht. Da gibt es seit einigen Jahren auch eine englische Übersetzung die unheimlich gut ist. Die Shangwu Yinshuguan 书馆 [Commercial Press] hat da so eine Übersetzung, auch ein Xinhua Zidian, also das gleiche Lexikon nur aus China. Zeichen für Zeichen waren es ähnliche Übersetzungen, das war sehr sehr gut! Und daraus ist dann eine zweisprachige Ausgabe entstanden die ich jedem ans Herz lege. Und ansonsten, Lieblingswörterbuch, das hab ich gleich hier hinten, das von Lin Yutang. Das empfehle ich also weiter, allerdings hat sich das in der Sinologie nicht durchgesetzt weil natürlich, wie jeder vernünftige Sinologe, hat sich der Lin Yutang erstens eine eigene Umschrift ausgedacht, und zweitens ein eigenes Schriftzeichen-Nachschlagesystem was sehr genial ist. Da waren aber die Sinologen zu blöd das zu kapieren, deswegen hat sich das nicht durchgesetzt, die haben einfach die Schriftzeichen nicht gefunden.

MM: Das ist Ihr letztes Semester hier?

WS: Das ist mein offizielles letztes Semester hier.

MM: Würde ihnen das Unterrichten fehlen?

WS: Ja, also ich bin nicht unbedingt jemand der sich gerne reden hört aber ich hab schon immer gerne unterrichtet. Ein bisschen vermissen werde ich das bestimmt. Manche Sachen werden irgendwann doch zur Routine, und manche Geschichten erzählt man in 30 Jahren bestimmt auch 30 Mal. Aber ansonsten, unterrichten wenn die Gruppe gut ist, das macht schon Spaß.

NL98 Yoda
Foto: Mariana Münning

 

MM: Ich seh grad den Meister Yoda da oben, sind sie ein Star-Wars-Fan?

WS: Ach nein, das haben mir meine Studenten geschenkt. Die meinten er sei mir sehr ähnlich. Das ist aber jetzt auch bestimmt 20 Jahre her. 

Die ersten Jahrgänge des Propädeutikums, da kann man sich wirklich noch an manche Dinge und manche Episoden erinnern. Und viele von den Leuten sind auch richtig was geworden. Viele meiner früheren Studenten und Studentinnen sind inzwischen Professoren, in Hong Kong, Irland, Schottland, aus wirklich vielen ist richtig was geworden.

MM: Fürs Propädeutikum haben sie doch den Lehrpreis bekommen?

WS: Irgendwann mal, ja. Das nehme ich aber nicht weiter ernst.

MM: Das ist schon eine einmalige Sache. Super! Dann vielen Dank für das Interview!

 

Interview: Mariana Münning am 12.7.2018 in Dr. Spaars altem Büro in der Akademiestraße.

Redaktion: Lydia Rachel

 

Die weiteren Teile des Interviews finden Sie hier: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4.

 

Literatur:

Lin, Yutang: Lin Yutang's Chinese-English dictionary of modern usage. - Hong Kong: Chinese University Press, 1972. - lxvi, 1720 Seiten

Franke, Wolfgang: Im Banne Chinas - 1912 - 1950. - Bochum: Projekt-Verl., 1995. - IV, 248 S. (Edition Cathay ; 11)

Franke, Wolfgang: Im Banne Chinas : Autobiographie eines Sinologen 1950 - 1998 / Wolfgang Franke. - Dortmund: Projekt Verlag, 1999. - 299 S. : Ill. (Edition Cathay ; 48)

China : Kultur, Politik und Wirtschaft; Festschrift für Alfred Hoffmann zum 65. Geburtstag / hrsg. für die Abt. für Ostasienwiss. d. Ruhr-Univ. Bochum von Hans Link .... - Tübingen ; Basel: Erdmann, 1976. - 348 S. : Ill.

Spaar, Wilfried: Die kritische Philosophie des Li Zhi (1527 - 1602) und ihre politische Rezeption in der Volksrepublik China / von Wilfried Spaar. - Wiesbaden: Harrassowitz, 1984. - 608 S. (Veröffentlichungen des Ostasien-Instituts der Ruhr-Universität Bochum ; 30)

Werke von Wilfried Spaar in der UB

 

<< Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Zuletzt bearbeitet von:
Letzte Änderung: 08.12.2020
zum Seitenanfang/up