Grenzüberschreitende Kommunikation durch Musik

Meine Arbeit als Übersetzerin und interkulturelle Vermittlerin im Projekt „Wenji – 18 songs of a Nomad Flute“ war für mich sehr faszinierend und bereichernd. Die Erfahrungen und Eindrücke des Zusammenwirkens der Beteiligten aus verschiedenen Kulturen und ihren Vorstellungen von Musik möchte ich im Folgenden schildern.

Vom 18.06.2019 bis zum 21.07.2019 war Lan Tian, ein Pekingoperndarsteller aus Shanghai, bei uns zu Gast um seine Rollen für die Kammeroper „Wenji – 18 songs of a Nomad Flute“ einzuüben und gemeinsam mit dem Ensemble zu proben. Ein interessanter Aspekt dieses Projekts war die Interkulturalität – gesungen und gesprochen wurde teils auf Englisch, teils auf Chinesisch. Im Ensemble spielten westliche und chinesische Musiker zusammen, sowohl auf westlichen Instrumenten als auch auf traditionell chinesischen.

Lan Tian erhielt seine Ausbildung in den vier Künsten der traditionellen Pekingoper – dazu gehören Singen und Sprechgesang, aber auch Kampfkunst und Schauspiel. Diese Opernform ist erst rund 200 Jahre alt und wurde von Künstlertruppen aus dem Süden Chinas, die an den Hof geholt worden waren, entwickelt.

 „Wenji – 18 songs of a Nomad Flute“ erzählt die Geschichte der Han-zeitlichen Figur Cai Wenji 蔡文姬 (177-250), die in Chang’an (jetzt Xi’an) aufwächst, dann aber an den Nomadenkönig Zuoxian verheiratet wird. Nach 12 Jahren erhält sie die Möglichkeit zurückzukehren – aber ohne ihre zwei Söhne. Sie muss sich entscheiden, was für sie Heimat bedeutet und wo diese ist.

Das Projekt wurde vom KlangForum Heidelberg e.V. und der ADK Ludwigsburg, in Zusammenarbeit mit dem Konfuzius-Institut Heidelberg, dem CATS—Centrum für Asienwissenschaften und Transkulturelle Studien (Universität Heidelberg) und der Hochschule für Bildende Künste Dresden, umgesetzt.

Die Proben begannen und ein ungeahntes Problem tauchte auf. Lan Tian konnte den für alle beteiligten notwendigen einheitlichen Rhythmus nicht umsetzen. Der musikalische Leiter Walter Nußbaum versuchte immer wieder die Taktschläge durchzusetzen, um Instrumente und Sänger zusammenzubringen. Lan Tian machte jedoch unvermittelt eine Pause nach dem ersten Schlag, zog plötzlich das Tempo an oder verlangsamte es. Warum kann ein erstklassiger renommierter Sänger der Peking-Oper scheinbar den Rhythmus nicht halten? Die Antwort überraschte.

Lan Tian erzählte mir, dass in der Peking-Oper die Instrumente auf den Sänger hören. Zieht der Sänger das Tempo an, folgen die Instrumente diesem Taktschlag. Die immer wieder aufgeführten Stücke seien jedoch auch bekannt, sodass ein Zusammenspiel reibungslos möglich ist. Zudem verfolgt die chinesische Musik nicht wie die europäische einen durchgehend gleich bleibenden Rhythmus. Sie ist in Phrasen mit wechselndem Tempo unterteilt.

Auch wunderte ich mich darüber, dass Lan Tian die Töne nicht sauber zu singen vermochte. Es handelt sich jedoch um eine weitere Besonderheit des Stils der Peking-Oper. Wellenartige Töne der Peking-Oper brauchen mehr Zeit für die Ausführung. Nicht nur die notierte Note, sondern auch der Halbton darunter erklingt. Beim Tonwechsel werden häufig auch die Töne zwischen beiden notierten Noten gesungen. Die Töne enthalten den ursprünglichen Ton eines der vier Töne des Zeichens und sie drücken dadurch stilisiert die Gefühle der Rolle aus.

Für Lan Tian war anfangs auch der Ablauf der Proben irritierend. Das Probenkonzept der Zusammenarbeit und des gegenseitigen voneinander Lernens, welches Walter Nußbaum und Johann Diel, der Regisseur, vertraten, schien Lan Tian neu zu sein. In China ist es für die Umsetzung einer Peking-Oper nicht üblich, dass der Sänger seine eigenen Ideen, was den Charakter der Rolle, den Stand auf der Bühne, oder auch die schauspielerische Umsetzung betrifft, auch verwirklichen kann, sondern der Lehrer gibt sein Wissen an den Sänger weiter und weist ihn an, wie ein Stück gesungen werden sollte. Korrekturen durch den Sänger und einen gemeinsamen Schaffensprozess gibt es nicht.

Erwähnt seien noch einige kleine, aber amüsante kulturelle Unterschiede. Lan Tian trank literweise schwarzen Kaffee, obwohl er ihm nicht schmeckte. Warum? Um durch den bitteren Geschmack des Kaffees ein schmales Gesicht zu behalten, wie er meinte. Außerdem ziehen sich die Darsteller der Peking-Oper für diese Gesichtsform mit einem Band um die Stirn das Gesicht nach oben.

Auch trank er trotz 40°C heißes Wasser für die Stimme. Und natürlich trug er die glücksbringenden roten Unterhosen.

Es war für mich sehr interessant, das Zusammentreffen der verschiedenen Kulturen, mit den sehr unterschiedlichen Vorstellungen und Regeln von Musik aus dem mir vertrauten Kontext der europäischen Musiktradition heraus zu beobachten.

Anne Joksch

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Übersetzung und Austausch der Ideen (v. l. n. r. Johann Diel, Anne Joksch, Lan Tian, unten Laura Schuh (Regieassistenz) und Peyee Chen (Wenji – weibliche Hauptrolle)
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Lan Tian beim Spielen einer imaginären Guqin, mit Zoë Valks, der personifizierten Guqin dahinter. Sie wurde der Kammeroper hinzugefügt. Sie spielte die Seelenverwandte von Wenji und rezitierte Gedichte von Ingeborg Bachmann.

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Letzte Änderung: 04.03.2020
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