Kein „melancholischer Bücherwurm“—Zum Tod von Rudolf G. Wagner (1941-2019)

Wagner an der Tafel


In der Januarausgabe der Ruperta Carola 1994, gerade ein Jahr, nachdem er den Leibniz-Preis, den höchsten deutschen Forschungspreis, für seine wissenschaftlichen Leistungen erhalten hat, erscheint ein Aufsatz von Rudolf G. Wagner, tituliert "Der melancholische Bücherwurm," in dem er die wichtigsten Eigenschaften des Wissenschaftlers aus jahrhundertealten Diätetiken zusammenstellt: Hiernach ist der Gelehrte ein „Stubenhocker“, ein von der Melancholie geküsster Denker, der vom übertriebenen Studium wahnsinnig wird.  Während andere sich um ihr Handwerkszeug kümmern, so stellen diese Diätetiken fest, vernachlässigt allein der Gelehrte sein wichtigstes Instrument: Von der immerwährenden Kontemplation wird das Hirn ausgetrocknet und während sich die Lebensgeister droben im Kopf dieser hingeben, sind die Leber und der Magen alleingelassen, die Nahrung bleibt halbverdaut und aus Mangel an Bewegung können überflüssige Dämpfe nicht abgegeben werden. In der Tat, Gelehrte sind nicht viel anders als Fakire: wie diese kasteien sie sich ganz freiwillig, ohne dass auch nur der geringste Vorteil für sie selbst, noch weniger aber die Gesellschaft dabei herauskomme. Sie machen sich kaputt, im Kampf mit alten Inschriften, unlesbaren Schriftzeichen, und zwar vor allem deshalb, weil ihr Kampf einer des Geistes alleine ist, begleitet von der gänzlichen Untätigkeit des Leibes. Kurzum, die körperlichen Folgen geistiger Arbeit sind fürchterlich. Trocken, traurig und trübselig—so heißt es da—sind entsprechend die Wissenschaftler. 

Und müssen es doch sein, denn: Unweigerlich führt der Weg zum genialen Werk durch das „Krankenlager der Melancholie.“ Die Melancholie verteilt zugleich den Schmerz und die Lust, den Wahnsinn und die Einsicht, die Leere im Kopf und die rege Vorstellungskraft. Entsprechend sind der süchtig leidende Blick, die bleiche Wange und der Blähbauch Markenzeichen eines rechten Gelehrten. Und wer ein solcher werden wollte, der legte sich diese Attribute zu, noch bevor er das erste Buch studiert hatte: Er bringt das Opfer seiner körperlichen und geistigen Gesundheit auf dem Altar der Gelehrsamkeit: Ohne Melancholie kein Genie!

Das Handwerkszeug des Gelehrten ist aber auch denkbar ungeeignet. Kann eine einfache Willensanstrengung jeden noch so kleinen Muskel dazu bringen, erhebliche Kraft anzuwenden, bringt doch kein Befehl das Hirn dazu, einen guten Gedanken abzusondern—da mag man sich noch so viel auf den Schädel schlagen, die Haare raufen, oder die Fingernägel kauen... Die kleinsten Schwankungen des Leibes, der Seele und der Umwelt bringen den ganzen Zug aus dem Gleis und verwandeln eine lange Gedankenkette in nichts als Schrott. So das Fazit dieser Lektüre von Diätetiken.

Es lag nicht in der Natur eines Menschen wie Rudolf G. Wagner, so etwas hinzunehmen: zwar konnte man auf dem kleinen Tisch in seinem Büro in der Sandgasse—zwei Umzüge ist es inzwischen her (zuerst in die Akademiestrasse und jetzt in das CATS)—einen farbenfrohen Gartenzwerg bewundern, mit einem Messer quer durch den Rücken, der dieses gefährliche Gelehrtenschicksal unmissverständlich zu versinnbildlichen schien (und man fragte sich, ob die Studenten, die ihm diesen geschenkt hatten, mit diesem Bild mehr an sich selbst oder an ihren Lehrer gedacht hatten), aber Rudolf G. Wagner war anders: Er war es, der vor Schokolade im Institut für Sinologie sehr regelmäßig warnte und bei Konferenzen dafür sorgte, dass es viel „bio-Dynamisches” gab: Obst und Luftpausen; das freitägliche Kolloquium wurde unweigerlich um 18 Uhr abgebrochen: „So, und jetzt muss ich Squash spielen.”

Warum? Nicht unwahrscheinlich ist es, dass der Wille, die Wut, der Mut und die Überzeugung, dass auch die schon seit Jahrtausenden verdammte Profession mit Lust zu führen sei, und dass auch eine von ihm mit der Vokabel „Würstchenbude” versehene Institution wie die deutsche (und natürlich und gerade auch) die Heidelberger Sinologie dereinst Service-Zentrum nicht nur für sinologische Forschung für Europa werden könnte (was auch gelungen ist, mit CrossAsia und der Heidelberg Research Architecture, die beide ihre Wurzeln in dem von Rudolf G. Wagner 1998 European Center for Digital Resources in Chinese Studies begründeten und von der Krupp-Stiftung großzügig geförderten Ressourcenzentrum haben) sich aus chinesischen Texten begründete. Woher also die Weitsicht, die Hoffnung, das Durchhaltevermögen, bei all den Stolpersteinen und Hindernissen von innen und von außen, die diesen gelehrten Weg säumten?

Die Antwort finden wir im Kapitel 21 „Selbstvertrauen und harter Kampf” der kleinen roten „Mao-Bibel,“ die Rudolf G. Wagner als Alt-68er und Maoist sehr vertraut war. Dort steht die Parabel vom „verrückten, alten Mann, der Berge versetzen wollte 愚公移山.” Dieser verrückte alte Mann, also, dem die Berge vor seinem Haus den Weg versperren, fasst den Entschluss, diese abzutragen. Ein weiser Alter lacht ihn dafür aus. Der verrückte Alte antwortet, dass, wenn er es selbst es nicht schaffen sollte, irgendwann einmal seine Kinder oder Kindeskinder die Berge abtragen würden, höher könnten diese ja schließlich nicht werden. Beeindruckt von der Entschlossenheit des Mannes sorgt der Himmelskaiser dafür, dass die Berge tatsächlich (und über Nacht) verschwinden.

1994, also genau vor einem Vierteljahrhundert, und ein Jahr nachdem er den Leibniz-Preis verliehen bekommen hatte, schreibt Rudolf G. Wagner am Ende seines Aufsatzes über den melancholischen Bücherwurm ein deutliches Plädoyer für neue Räume für die Wissenschaft, solche, die Bewegung, Licht- und Luftzufuhr erlauben, und es also dem Wissenschaftler ermöglichen, eben doch und immerdar mit und gegen die Melancholie zum Genie hindurchzustoßen: „Die Arbeitswissenschaften entdecken erst in den letzten Jahrzehnten wieder die Bedeutung von Beleuchtung, Luftfeuchtigkeit, Frischluftzufuhr oder Temperatur für die industrielle Arbeit. Die intellektuelle Arbeit ist in einem ungleich höheren Masse von in diesem Sinne optimalen—ganz kostenneutralen—Rahmenbedingungen abhängig. Wenn die Konzentrationsfähigkeit durch Nichtbeachtung solcher Faktoren sinkt, sinkt die Arbeitsfähigkeit von Intellektuellen in einem sehr beunruhigenden Maße. Gleichwohl werden Universitätsgebäude und Forschungszentren weitgehend ohne Berücksichtigung dieser alten und neuen Erkenntnisse gebaut. Als hätte er es vorausgesehen, dass wir heute im CATS, sonnendurchleuchtet, luftdurchflutet, angenehm temperiert und mit Blick auf den feuchten Neckar forschen und arbeiten können und seiner gedenken.

Rudolf G. Wagner war eine ungewöhnlich brillante und produktive Forscherpersönlichkeit. Von der Philosophie und Philologie des Laozi (6. Jhdt. v. Chr.) zur Politik des Geheimnisses im China des 21. Jahrhunderts, von der frühen freien Presse im 19. Jahrhundert, bis zur Nutzung von Biogas im ländlichen China nach der “Befreiung” durch die Kommunistische Partei und mehr: Für sein stupendes Detailwissen weit über die Grenzen seines Faches hinaus war Rudolf G. Wagner geradezu sprichwörtlich bekannt. Er war ein faszinierender Diskussionspartner und charismatischer Vortragender, ein überaus großzügiger Lehrer und Kollege, ein mutiger Wissenschaftler.

Seine Forschung ist wegweisend in vielfacher Hinsicht: Schon lange vor der Rede von der Interdisziplinarität, hat er die Grenzen zwischen Disziplinen und Kulturen überschritten. Als Mitbegründer des Heidelberger Exzellenzclusters „Asien und Europa im globalen Kontext” (2007-2019) und des “Journals of Transcultural Studies” hat er den kulturkritischen Ansatz der Transkulturalität vorangetrieben, ja einen Transcultural Turn ermöglicht. Dynamisch und weltoffen hat dieser Forschungszugang in Zeiten kriselnder Demokratien ein enormes Potential und inspiriert Diskussionen, die weit über die Sinologie und die Universität hinausreichen.

In Wiesbaden geboren, studierte Rudolf G. Wagner Sinologie, Japanologie, Politikwissenschaft und Philosophie in Bonn, Heidelberg, München und Paris: Er verband ein leidenschaftliches Engagement in der aktuellen Politik mit Forschung zum klassischen China: 1969 wurde er in München mit einer Arbeit zur Transformation des Buddhismus promoviert. Sie behandelt die schillernde Gestalt, des ersten Übersetzers buddhistischer Schriften aus dem Sanskrit in das Chinesische. 1981 habilitierte er sich in Berlin mit einer inzwischen in 3 Bänden publizierten Schrift die dem berühmtesten (und exzentrischsten) unter den chinesischen Kommentatoren des Laozi, Wang Bi (226-249), gewidmet ist.

Bei einer Reihe von Forschungsaufenthalten an den besten Universitäten in den USA (u.a. in Harvard, Berkeley, Cornell) entstanden Arbeiten zur Taiping Rebellion (1984) zum Historischen Drama (1990) und zur modernen chinesischen Literatur (1992), gefolgt von einflussreichen Bücher zur frühen chinesischen Presse (2007), und zu chinesischen Enzyklopädien (2014). Im Druck ist gerade eine medientheoretisch ausgerichtete Studie zur Entwicklung des Films während der Großen Proletarischen Kulturrevolution (1966-76).

Seine Berufung 1987 an die Universität Heidelberg war der Anfang eines rasanten Wandels für die Heidelberger Sinologie: Mit Weitsicht baute er—aus den Mitteln seines 1993 verliehenen  Leibniz-Preises—eine der größten europäischen sinologischen Bibliotheken auf, die lange bevor die Nutzung digitaler Resourcen zur Selbstverständlichkeit wurde, bereits als Service-Center für die europäische Sinologie fungieren konnte (chinaresource.org). Hier wurde die Idee der digitalen Archivierung von (durch Zensur) gefährdeten Daten (DACHS Digital Archive of Chinese Studies) entwickelt. Die von ihm aufgebaute Bibliothek ist im Sommer 2019 in einen Neubau im Centre for Asian and Transcultural Studies (CATS), umgezogen, als deren spiritus rector Rudolf G. Wagner gelten muss.

Rudolf G. Wagner war Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften und gewann zahlreiche Fellowships, etwa am Berliner Wissenschaftskolleg, an der Academia Sinica in Taiwan, an der Fudan Universität und der Akademie für Sozialwissenschaften in Shanghai (wo er 1996 zum Außerordentlichen Professor ernannt wurde), und an der Peking Universität. Am 14. November erhielt er, posthum, den Karl Jaspers Preis.

Prof. Barbara Mittler

 

Anmerkung der Redaktion:

Rudolf G. Wagners Artikel "Der melancholische Bücherwurm", der 1994 in der Ruperto Carola erschien, war illustriert mit verschiedenen Bücherwürmern und melancholischen Professoren, darunter die Karikatur des "zerstreuten Mathematik-Professors", Fliegende Blätter — 81.1884 (Nr. 2032-2057).

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Letzte Änderung: 14.12.2022
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