Whistleblower am Städtischen Krankenhaus Wuhan? Woher wissen wir was?

Li Wenliang 李文亮 (1986-2020) starb am 7. Februar auf der Intensivstation des Zentralen Städtischen Krankenhauses Wuhan 武汉市中心医院, an dem er bis zu seiner Erkrankung in der Augenchirurgie arbeitete. In den Medien wird er immer wieder als Whistleblower angeführt, der mit seiner Kenntnis eines neuen, SARS-ähnlichen Virus an die Öffentlichkeit ging, gern auch mit dem Hinweis, er werde in China als Held verehrt.

Verkürzung ist manchmal notwendig und ein Teil der unserer Erinnerungsbildung. Unnötige Verflachung ist allerdings nicht nur ärgerlich, sondern leistet einem groben Einheitsbild Vorschub, in dem "die Chinesen" in sicherem Abstand die "Anderen" bleiben, mit denen wir uns nicht eingehender zu beschäftigen brauchen. Zu Li Wenliang gibt es exakt 2,5 Quellen, Recherche ist also nicht übermäßig schwierig. Im Übrigen gibt es mit Ai Fen 艾芬 eine weitere Ärztin, die ebenfalls als Whistleblowerin geführt wird, und mindestens acht weitere Mediziner, die bereits Anfang Januar wegen unzulässiger Verbreitung von Informationen belangt wurden. Dieser Beitrag ist eine Durchsicht der vorhandenen Quellen im Hinblick darauf, was wir woher wissen, und was aus human interest stories aus dem Wuhan während der Coronaepidemie in Erfahrung zu bringen ist.

Erste Nachrichten

Weltweite Nachrichtenverteiler (DPA und Reuters) brachten am 30. Dezember die Kurznachricht von einer "mysteriösen Lungenkrankheit" in Wuhan, die möglicherweise in Zusammenhang mit dem Huanan 华南 Fischmarkt stand. Am 31. Dezember setzte die Taiwaner Regierung ihr Seuchenschutzprogramm in Kraft und dekretierte einen Gesundheitscheck aller Passagiere in Direktflügen aus Wuhan.[1] Außerdem berichtete sie der WHO von sieben bekannten Fällen "atypischer Lungenentzündung" mit der Anfrage nach der Übertragbarkeit der Krankheit von Mensch zu Mensch.[2] Nach meinem Kenntnisstand waren meine akademischen Kollegen in China ab diesem Zeitpunkt ebenfalls besorgt über eine neue, SARS-ähnliche Krankheit.

Etwa Ende Januar kursierte in nichtoffiziellen chinesischen Medien ein Foto einer internen Eilmitteilung der Gesundheitskommission Wuhan zur "Lungenentzündung unklarer Ursache" die auf den 30. Dezember datiert ist. Hauptinhalt ist der Aufruf an Krankenhäuser zu organisierter und abgestimmter Behandlung, und zum Berichten aller relevanten Erkenntnisse an vorgesetzt Behörden. Als Schlusszusatz in eigenem Absatz ist hinzugefügt: "Nicht autorisierte Institutionen und Einzelpersonen dürfen Informationen zur Behandlung nicht eigenmächtig an Außenstehende weiterleiten" (未经授权任何单位、个人不得擅自对外发布救治信息).[3] Diese Anweisung ist ein Maulkorb, einsetzbar gegen jegliche Mitteilung zum Thema an "Außenstehende". Eine Anweisung dieser Tragweite ist in China nur mit der Autorität der Zentralregierung möglich.

Am 1. Januar, teilte die Wuhaner Polizei über ihre App "Friedliches Wuhan" (平安武汉), dass "acht Gerüchteverbreiter zur neuartigen Lungenentzündung in medizinischen Einrichten nach Recht und Gesetz zur Rechenschaft gezogen wurden" (依法查处8名散步医疗机构接诊多例肺炎病例谣言者).[4]

Mit der Anweisung, die vermutlich an alle im Gesundheitswesen Tätige ging, setzte offensichtlich die Ahndung der Verbreitung nichtautorisierter oder falscher Informationen zu den Krankheitsfallen ein.

Li Wenliang

Am 7. Februar veröffentlichte das Wirtschaftsmagazin Caixin 财新 eine Reportage und ein Interview von Tan Jianxing 覃建行 unter dem Titel "Li Wenliang, der 'Whistleblower'" der neuartigen viralen Lungenentzündung: Am wichtigsten ist die Wahrheit" (新冠肺炎 吹哨人 李文亮 真相最重要).[5] Das Interview fand am 30 Januar per Weixin statt.

Dem Artikel zufolge stammte Li Wenliang aus Nordostchina, ging zum Studium in den Süden und blieb auch dort. Seit 2014 arbeitete er als Augenarzt am Zentralkrankenhaus Wuhan. Gemeinsam mit seiner Frau hat er eine vierjährige Tochter. Ein weiteres Kind war unterwegs, der Geburtstermin im Juni.[6] Li‘s Eltern waren mit nach Wuhan gezogen.

Li Wenliang stellt freimütig und ausführlich dar, dass er am 31. Dezember selbst von Kollegen von dem neuen, SARS-ähnlichen Virus erfuhr. Er leitete die Information in seiner Weixin-Gruppe von etwa 150 Studienkollegen weiter, um diejenigen zu warnen, die selbst praktizierende Ärzte sind. Aus diesem Zirkel wiederum leitete eine Person einen Screenshot an eine öffentliche Runde weiter, mit Li Wenliangs Namen, aber ohne seinen qualifizierenden Zusatz, dass das Virus noch unidentifiziert war. Li erfuhr dies umgehend, als er zunächst vor die Disziplinarkommission seines Krankenhauses zitiert wurde und wenige Tage später auf die Polizeiwache musste. Hier musste er sich Vorhaltungen anhören, er habe falsche und panikschürende Gerüchte verbreitet, und eine "Belehrung" unterschreiben, dass er sein Fehlverhalten einsehe und Besserung verspreche.

Li räumt ein, dass er zunächst durchaus verärgert war, als einer seiner Studienkollegen seine Nachricht weiterverbreitet habe. Zum Zeitpunkt des Interviews allerdings, sah er es allerdings nachsichtiger, als ein Versuch der Person, ihrerseits Bekannte und Verwandte zu schützen. Auf die Frage, ob er einer der acht "Gerüchteverbreiter" aus der Polizeinachricht sei, konnte Li keine Auskunft geben, da die Polizisten, mit denen er es zu tun hatte, nichts davon erwähnten.

Li stellt seine Infektion mit Corona als eindeutig verfolgbar dar. Am 8. Januar habe er eine anscheinend sonst gesunde Patientin mit grünem Star ohne Vorsichtsmaßnahmen behandelt. Am folgenden Tag begann die Patientin zu husten und zu fiebern, bald darauf auch die Verwandte, die sie im Krankenhaus betreute. Bereits am 10. Januar bemerkte Li an sich selbst Husten. Nachdem er sich selbst diagnostiziert hatte, wurde er am 12. Januar stationär aufgenommen und positiv getestet. Seine Eltern und seine Tochter erkrankten ebenfalls, woraufhin seine Frau zu ihren Eltern reiste und damit wegen des Lockdowns ab 23. Januar nicht in die Stadt zurückkehren konnte. Sein Vater musste ebenfalls ins Krankenhaus, war zum Zeitpunkt des Interviews jedoch auf dem Weg der Besserung.

Li glaubte sich am 30. Januar ebenfalls, in etwa zwei Wochen wieder auf den Beinen und einsatzfähig zur Versorgung anderer Coronakranker zu sein. Er berichtet zudem, dass er 50.000-60.000 Yuan für eine Immunoglobulinbehandlung ausgegeben hatte. Ab 2. Februar verschlechterte sich Lis Zustand und er starb in den frühen Morgenstunden des 7. Februar auf der Intensivstation seines Krankenhauses.

Ein Beitrag unter dem Titel "Meine 168 Stunden mit Li Wenliang" (我和李文亮的168小时), der seit den Abendstunden des 7. Februar kursierte, und Zhou Jian 周健 als Autor angibt, ergänzt einige Informationen. Zhou bezeichnet sich als Schüler und Bekannter von Tan Jianxing und die Kontaktperson in Wuhan. Caxin scheint eine Spendensammlung für Li Wenliang durchgeführt zu haben, die in nur einem Tag über 100.000 Yuan zusammenbrachte. Das Geld war für die Behandlung bestimmt, die Li aus eigenen Mitteln hatte bezahlen müssen.[7] Zhou veröffentlicht in dem Beitrag Auszüge aus seiner die Kommunikation mit Li vom 31. Januar bis zum 5. Februar. Die Quelle ist kein reguläres Outlet, aber angesichts der Kürze der Zeit und der anderweitig nicht bekannten Umstände ist eine Fälschung unwahrscheinlich.

Ebenfalls am 7. Februar druckte die New York Times Auszüge eines Interviews, das eine als Elsie Chen identifizierte Person vermutlich gleichermaßen über Weixin mit Li führte. Das vergleichsweise kurze Interview ist inhaltlich weitgehend deckungsgleich mit dem oben zusammengefassten in Caixin.[8] Der Artikel der chinesischen Ausgabe ist "Interview mit dem Whistleblower der Epidemie: Aufzeichnung des Gesprächs mit Li Wenliang" (对话疫情“吹哨人”:李文亮医生生前采访实录). Der englische Titel ist "He Warned of Coronavirus. Here's What He Told Us Before He Died." Der Titel ist deutlich reißerischer, vermeidet aber den Ausdruck Whistleblower.

In beiden Interviews stellt Li Wenliang klar, dass er nicht beabsichtigte, Informationen an die Öffentlichkeit zu leiten, sondern Kollegen zu warnen. Er lässt ebenfalls keinen Zweifel daran, dass er sich von seiner Verwarnung bis zu dem Interview mit Caixin an den Maulkorb hielt. Zu entnehmen ist auch, dass Lis Entscheidung, doch an die Öffentlichkeit zu gehen zu einem Zeitpunkt kam, als er schwer krank war, aber glaubte, auf dem Weg der Besserung zu sein. Es ist deutlich, dass er mit Interview bewusst an die Öffentlichkeit ging, allerdings nicht mehr als Warner vor dem Sturm, sondern als Erklärung des eigenen Schweigens und als bittere Warnung an andere, insbesondere an Menschen mit hohem Infektionsrisiko. Der Beitrag von Zhou Jian legt nahe, dass daneben finanzielle Sorgen fur die Familie eine Rolle gespielt haben konnten.

Die Lektüre der Interviews zeigt, dass Li Wenliang ein junger und glücklicher Vater und ein verantwortungsbewusster Arzt war, aber kein aktivistischer Held oder Whistleblower.

Nichtsdestotrotz ist sein Fazit aus seiner ersten Erfahrung mit Disziplinarabteilung und Polizei eindeutig: "Ich glaube, in einer gesunden Gesellschaft sollte es nicht nur eine Stimme geben; mit zu viel Einsatz staatlicher Macht zur Einmischung bin ich nicht einverstanden." (我觉得一个健康的社会不该只有一种声音,不同意利用公权力过分干预。)[9] Im Interview mit der New York Times ist die Antwort auf die Frage, ob die Epidemie glimpflicher verlaufen wäre, wenn seinerzeit den Warnungen der Ärzte Gehör geschenkt worden wäre, ebenso eindeutig: "Wenn die Regierung die Epidemiesituation öffentlich gemacht hatte, wäre es, denke ich, jetzt viel weniger schlirnrn. Es sollte (mehr) Offenheit und Transparenz geben." (如果官方提前公布疫情信息我想会好很多。应该跟(更)公开透明。)[10]

Die Trauer in chinesischen nichtoffiziellen Medien in den Tagen nach dem 7. Februar war in der Tat groß. Allerdings ist anzumerken, dass Li Wenliang, auch weil er sich noch am 2. Februar im Krankenbett fotografieren ließ, das Gesicht des unnötigen Sterbens wurde, das die von der Regierung verhängte Vertuschung verursachte.

Ai Fen

Am 10. März 2020 erschien ein weiteres Interview unter dem Titel "Die Überreicherin der Pfeife" (发哨子的人) in der Zeitschrift Renwu 人物 (Persönlichkeiten) über Ai Fen 艾芬, Stationsleiterin der Notfallambulanz des Zentralen Städtischen Krankenhauses Wuhan.[11] Die Verfasserin Gong Qingqi 龚菁琦 traf Ai Fen am 2. März in der menschenleeren Ambulanz. Gong präsentiert den Text als fortlaufende Darstellung aus der Sicht der Ärztin, etwas changierend zwischen dem umgangssprachlichen O-Ton und leicht gerafften Abschnitten. Der recht lange Artikel (über 8000 Zeichen) bietet einen anschaulichen Eindruck der Zeit vom 16. Dezember bis zum 2. März. Einige Passagen sind im Anhang übersetzt.

Wir erfahren, dass Ai seit 13 Jahren an diesem Krankenhaus arbeitet, verheiratet ist und zwei Kinder hat, das jüngste gerade erst ein Jahr. Ihre jüngere Schwester lebt mit ihr und betreut die Kinder.

Bis zur Drucklegung des Artikels am 9. März waren 4 Mitarbeiter des Krankenhauses an Corona gestorben, mehrere wurden noch künstlich beatmet. Die Mehrzahl der Mitarbeiter der Infektionsabteilung hatten die Krankheit gehabt, doch Ai Fen selbst blieb verschont.

Sie stellt ihre Erfahrung mit Corona seit der Einlieferung des ersten Patienten am 16. Dezember, über die Erkrankung zahlreicher Kollegen bis zum Abklingen der Epidemie dar. Der erste Patient kam mit hohem Fieber, aber ohne Atemwegserkrankung. Als Atemprobleme auftraten, wurde er in ein anderes Krankenhaus verlegt, doch Ai Fen erhielt am 30. Dezember die Ergebnisse eine Lungengewebeanalyse. Das Labor hatte ein "SARS-ähnliches Virus" identifiziert. Ai war alarmiert und schickte ein Foto mit dem entsprechenden Ausschnitt aus dem Laborbericht an sechs Kollegen im Hospital, darunter Li Wenliang.

Am 2. Januar wurde sie vor die Disziplinarkommission zitiert, wo sie in "nie dagewesener, schärfster Weise gemaßregelt wurde" (前所未有的、严厉的斥责). Im Anschluss leistete sie ihren Dienst. Abends zuhause erzählte sie nichts, sagte aber ihrem Mann, er solie sich gut urn die Kinder kümmern, fall ihr etwas passieren sollte. Erst nachdem Zhong Nanshan 钟南山, ein landesweit renommierter Arzt, die Übertragbarkeit des Virus von Mensch zu Mensch am 20 Januar offiziell gemacht hatte, sah sich Ai in der Lage, ihrem Mann den Vorfall anzuvertrauen.

Ai erläutert, sie sei keine Whistleblowerin, höchstens die "Person, die die Pfeife überreichte", und gehöre auch nicht zu den acht Gerüchteverbereitern, da sie ja nicht auf die Polizeiwache gerufen wurde. Ihr vorherrschendes Gefühl, nachdem sie den Dienst durch die Epidemie überstanden und wieder zur Besinnung gekommen ist, bezeichnet sie als "Gewissensbisse" 后悔: "Hätte ich damals gewusst, was auf uns zukam, hätte ich mich nicht um die Kritik geschert, sondern es komme-was-wolle überall erzählt, nicht wahr?" (早知道有今天,我管他批评不批评,『老子』到处说,是不是?)

Die Disziplinarsitzung jedoch nahm ihr den Mut mit jeglichen "Außenstehenden" – einschließlich ihres Mannes! – zu reden. Dennoch wies sie noch am 1. Januar die 200 Mitarbeiter der Notfallambulanz an, Schutzmasken zu tragen und beständig zu desinfizieren. Nachdem sie am 8. Januar mit hustenden Patienten und ihren Begleitern konfrontiert war, gab sie zudem Anweisung, Masken an alle Patienten und ihre Begleiter auszugeben. Ab Anfang Januar beobachtet sie, dass Kollegen nach der Teilnahrne an Versammlungen krank wurden und war trotz anderslautender offizieller Bekundungen von der Übertragung von Mensch zu Mensch überzeugt.

Als die Sprache auf Li Wenliang kommt, teilt Ai mit, dass sie ihn persönlich nicht gekannt habe; das Krankenhaus hat über 4000 Mitarbeiter. Am Vorabend seines Todes rief sie ein Kollege der Intensivstation irrtümlich an, um nach einem Herzmassagegerät zu fragen. Auf diese Weise erfuhr Ai, dass Lis Zustand kritisch war. Sie sagt, sie sei sehr erschrocken gewesen und habe sich gefragt ob es einen Zusammenhang zwischen seinem Krankheitsverlauf und der Maßregelung geben konnte. Sie räumt ein, dass sich nicht weiteres über seinen Krankheitsverlauf wisse, aber nur zu gut, wie eine Maßregelung auf die Psyche wirke.

Als sich später herausstellte, dass Li recht hatte, meint sie, sie verstünde, wie er sich fühlte, nicht glücklich über die Bestätigung, sondern von Gewissenbissen geplagt, denn hätten sie damals laut weiter gewarnt, wären viele Leben gerettet worden. Sie geht nicht darauf ein, ob das Warnen die Aufgabe der Ärzte hätte sein sollen.

In drei Abschnitten berichtet sie von der Situation in der Ambulanz während der Epidemie, einschließlich erster Einschätzungen nachdem der Dauereinsatz von Mitte Januar bis Mitte/Ende Februar.

Zusammenfassend hält sie fest, sie habe in dieser Zeit "Erfahrungen gemacht, die ich in diesern Leben nicht vergessen kann, und die die menschlichen Werte auf den Kopf stellen können." (那段时间急诊科的状况,经历过的人一辈子都忘不了,甚至会颠覆你的所有人生观。)

Zu ihrer Erfahrung mit dem verordneten Redeverbot, und der Zurückhaltung entscheidender Informationen äußert sich Ai Fen nahezu wortgleich mit Li Wenliang: "Aber ich habe doch das Gefuhl, die Sache hat gezeigt, dass man an seinem selbstständigen Denken festhalten muss, denn es muss Leute geben, die aufstehen und die Wahrheit sagen. In dieser Welt muss es verschiedene Stirnmen geben, nicht?" (但我依然觉得,这次的事情更加说明了每个人还是要坚持自己独立的思想,因为要有人站出来说真话,必须要有人,这个世界必须要有不同的声音,是吧?[12]

 

Der Artikel war 1-2 Tage zugänglich, bevor er gelöscht wurde. Verschiedene andere Beiträge mit Interviewausschnitte mit Ai Fen wurden veröffentlicht, allerdings alle ohne die schmerzhaften Teile über Maßregelung, Tote und ihre Gewissenskonflikte.

Wie Ai Fen selbst unterstreicht, war sie zu keinem Zeitpunkt Whistleblowerin. Ihr Bericht weist sie als pflichtbewusste und scharfsichtige Ärztin aus, die Zusammenhänge beeindruckend schnell erkennt, und unter größtem Druck nicht nur funktionierte, sondern das Menschenmögliche tat, um ihre Mitarbeiter zu schützen. Im Interview kurz nach der Epidemie in Wuhan wirkt Ai ausgebrannt. Entwaffnend ehrlich räumt sie ein, dass ihre Kinder sie kaum noch kennen, und dass sie nicht weiß, ob sie je in einen normalen, unbeschwerten Alltag zurückkehren kann. Mehrfach kommt sie auf ihre Gewissenbisse zurück, vorwiegend wegen der kranken und verstorbenen Kollegen.

Ais Bericht zeigt, dass Wuhan die Ärzte hatte, die den katastrophalen Ausbruch der Epidemie verhindert hatten. Tragischer Weise wirkte der Maulkorb der Regierung, da Ärzte berufsbedingt regelkonform handeln, und darüber hinaus nach Ausbruch der Epidemie keine Ressourcen über die unmittelbaren Arbeitsanforderungen aufbringen konnten.

Woher wir wissen, was wir wissen

Die Übersicht der vorhandenen Artikel zeigen, dass wir das, was wir über Li Wenliang und Ai Fen wissen, zwei guten Journalisten und Zeitschriften in China verdanken, die den Mut zu sorgfältigen Interviews aufbrachten. Da die Polizei Wuhan schon am 1. Januar von acht gemaßregelten „Gerüchteverbreitern“ berichtet, gab es offensichtlich weitere Mediziner, vermutlich an verschiedenen Krankenhäusern der Metropole, die in ähnlicher Weise Informationen in medizinischen Kreisen und über diese hinaus bekannt machten.

Im Hinblick auf die Medien lässt sich festhalten, dass wir ohne Caixin und Renwu schlicht nichts erfahren hätten. Die New York Times, deren überragende Reaktionsschnelligkeit und Kontakte in China während der Epidemie in China mehrfach zum Tragen kamen, trug zur weiträumigeren Verbreitung der Geschichte Li Wenliangs bei, nicht aber zu inhaltlich neuen Erkenntnissen.

Die Berichterstattung in den wichtigen Medien im deutschsprachigen Raum ist mit Ausnahme von Lea Deubners Beiträgen eher peinlich. Zumeist werden schlicht die vorausgegangenen Artikel aus der englischen Presse zusammengefasst, und dabei oft verkürzt und mit Erweiterungen versehen, die von Sachkenntnis ungetrübt sind.

Es ist auch an uns als Fachleute, die wichtige und interessante Nachrichten aus China lesen und einschätzen können, diese zuganglich zu machen. Sofern wir diese Arbeit aber neben unserer regulären Arbeit übernehmen, ist es aber zumindest Sache der Medienfachleute, zu fragen.

Ganz nebenbei demonstriert der Exkurs, dass gute journalistische Arbeit in China trotz allem noch existiert, und dass es sich durchaus lohnt, die wenigen guten Quellen auch sorgfältig zu nutzen. Es finden sich ansprechende human interest stories, und es bietet sich eine differenzierte Perspektive auf normale Menschen, die normal und menschlich agieren.

L.S.

Anhang: Teilübersetzung von Ai Fens Bericht aus dem Krankenhausalltag während und nach der Epidemie[13]

Am Vorabend des 23. Januar, an dem die Stadt geschlossen wurde, rief eine Bekannte an, die in der Gesundheitsbehörde arbeitet. Ich fragte sie, rufst Du als Privatperson oder in staatlichem Auftrag an? Als sich versicherte, sie spräche als Privatperson, sagte ich, als Privatperson sage ich dir die Wahrheit: Am 21. Januar haben wir 1523 Patienten in der Ambulanz gehabt, dreimal soviel wie an normalen Tagen, davon 655 mit Fieber.

在1月23日封城前一天的晚上,有相关部门的朋友打电话问我武汉市急诊病人的真实情况。我说你代表私人,还是代表公家。他说我代表私人。我说代表个人就告诉你真话,1月21号,我们急诊科接诊1523个病人,是往常最多时的3倍,其中发烧的有655个人。

Es war so, dass die Krankenabteilungen voll waren und eigentlich keinen einzigen mehr aufnahmen, erst recht in der Intensivstation. Sie sagten, wir haben hier Nichtinfizierte, wenn einer hereinkommt, sind alle infiziert. Die Kranken kamen unaufhörlich, alle Zugänge waren schon voll, und also drängten alle in die Ambulanz. Die Kranken standen stundenlang an, wir konnten unmöglich Feierabend machen, und die Unterscheidung in fiebrige Erkrankungen und andere Notfälle brach zusammen. Die ganze Halle war voll Kranker, die Infusionsräume waren voll mit Kranken.

当时的情况是,后面的病区己经饱和了,基本上一个病人都不收,ICU也坚决不收,说里面有干净的病人,一进去就污染了。病人不断地往急诊科涌,后面的路又不通,就全部堆在急诊科。病人来看病,一排队随便就是几个小时,我们也完全没法下班,发热门诊和急诊也都不分了,大厅里堆满了病人,抢救室输液室里到处都是病人。

Ein Sohn kam, er brauchte ein Bett fiir seinen Vater, der sei im Auto und könne nicht mehr. Weil die Tiefgarage geschlossen war, stand er im Stau und kam nicht herein. Ich lief mit Helfern und Ausrüstung hin, wo das Auto stand, und der Patient war schon tot. Wie man sich da fühlt? Das tut richtig weh. Der Mann war im Auto gestorben, nicht mal zum Aussteigen hat es gereicht.

还有的病人家属来了,说要一张床,我的爸爸在汽车里面不行了,因为那时候地下车库己封,他车子也堵着开不进来。我没办法,带着人和设备跑去汽车里去,一看,人己经死了,你说是什么感受,很难受很难受。这个人就死在汽车里,连下车的机会都没有。

Dann war da noch eine alte Dame, deren Mann war schon in Jinyintan Krankenhaus gestorben, Sohn und Tochter hatten sich beide angesteckt, ihr Schwiegersohn kümmerte sich um sie. Es war gleich klar, dass es schlimm um sie stand, ich rief die Pneumologie und organisierte die Aufnahme, der Schwiegersohn war ein gebildeter Mensch und kam noch auf mich zu und bedankte sich artig. Mich machte das nervös, ich sagte noch schnellschnell, wir müssen uns beeilen. Kaum war die alte Dame hineingefahren worden, starb sie. Ein paar Worte des Danks, ein paar Sekunden Verzögerung. Dieser Dank hat mich wirklich belastet.

还有一位老人,老伴刚在金银潭医院去世了,她的儿子、女儿都被感染了,在打针,照顾她的 是女婿,一来我看她病得非常重,联系呼吸科给收进去住院,她女婿一看就是个有文化有素质的人,过来跟我说谢谢医生等等的,我心里一紧,说快去,根本耽误不了了。结果送去就去世了。一句谢谢虽然几秒钟,但也耽误了几秒。这句谢谢压得我很沉重。

Am 17. Februar bekam ich eine Weixin-Nachricht von einer Kollegin am Tongji-Krankenhaus, die entschuldigte sich bei mir Ich antwortete „ein Glück, dass du das weitergeleitet und noch einige gewarnt hast.“ Hätte sie es nicht, und hätte es Li Wenliang und die übrigen acht nicht gegeben, hätten noch weniger Menschen Bescheid gewusst.

2月17号,我收到了一条微信,是那个同济医院的同学发给我的,他跟我说「对不起」,我说:幸好你传出去了,及时提醒了一部分人。他如果不传出去的话,可能就没有李文亮他们这8个人,知道的人可能就会更少。

Drei Ärztinnen hier habe sich angesteckt. Bei zwei von ihnen habe sich auch die Männer und die Schwiegereltern angesteckt, bei einer die Eltern, die Schwester der Mann, alle fünf Mitglieder ihrer Familie. Alle finden, wo man das Virus doch so früh entdeckt hat, und so schlimm ist es gekommen, der Preis ist brutal.

这次,我们有三个女医生全家感染。两个女医生的公公、婆婆加老公感染,一个女医生的爸爸、妈妈、姐姐、老公,加她自己5个人感染。大家都觉得这么早就发现这个病毒,结果却是这样,造成这么大的损失,代价太惨重了。

Bei uns in der Gruppe „Ambulanz-halt-durch“ werden viel Gesundheitsdaten ausgetauscht. Einer fragte, ob ein Ruhepuls von 120 bedenklich ist? Klar ist das bedenklich, jede Anstrengung ist dann zu viel für das Herz, natürlich wird das lebenslang Auswirkungen haben, wird es im Alter Herzschwäche begünstigen? Alles schwer zu sagen. Andere können später Bergsteigen und reisen gehen, diese Person aber vielleicht nicht, das ist durchaus möglich.

我们「急诊加油群」里,大家经常会交流身体状况,有人问心率总在120次/分,要不要紧?那肯定要紧,一动就心慌,这对他们终身都会有影响的,以后年纪大了会不会心衰?这都不好说。以后别人可以去爬山,出去旅游,他们可能就不行,那都是有可能的。

Die Erfahrung der Epidemie war ein gewaltiger Schlag für uns. Unter den Mitarbeitem denken viele daran, den Job aufzugeben, auch die tüchtigsten. Bei uns allen sind die Werte, das normale Wissen ins Wanken gekommen: ist es eigentlich wirklich richtig, sich derart einzusetzen? Wie Jiang Xueqing [einer der führenden Chirurgen und Spezialisten für Schild- und Milchdrüsen des Krankenhauses, der noch am 8. Januar eine Tagung hielt, aus Eile teils ohne Schutz arbeitete, und am 1. März an Corona starb] der zu viel arbeitete, zu viel für die Patienten tat, jedes Jahr auch an Neujahr im OP stand. Jetzt schickte jemand eine Weixin-Nachricht von seiner Tochter, sie schrieb, ihr Vater habe seine ganze Zeit den Patienten gegeben.

经历过这次的疫情,对医院里很多人的打击都非常大。我下面好几个医务人员都有了辞职的想法,包括一些骨干。大家之前对于这个职业的那些观念、常识都难免有点动摇——就是你这么努力工作到底对不对?就像江学庆一样,他工作太认真,太对病人好,每一年的过年过节都在做手术。今天有人发一个江学庆女儿写的微信,说她爸爸的时间全部给了病人。

Ich selber mach mir auch viel Gedanken, soll ich nicht lieber zuhause bleiben, Hausfrau werden? Seit der Epidemie war ich kaum noch zuhause; mit meinem Mann wohnen wir außerhalb, meine Schwester kümmert sich zuhause um die Kinder. Mein Jüngstes kenn mich nicht mehr, guckt Videos und bemerkt mich gar nicht, da fühle ich mich ganz verloren. Es war keine leichte Geburt, 10 Pfund hat das Kind gewogen, Schwangerschaftsdiabetes. Bisher habe ich gestillt, aber jetzt habe ich abgestillt. Die Entscheidung hat mich bedrückt; mein Mann meinte, wenn so etwas in einem Leben passiert, und du bist nicht nur aktiv dabei, sondern leitest eine Truppe im Kampf gegen die Epidemie, das ist doch wichtig; später, wenn alles wieder normal wird, wird es eine wertvolle Erinnerung sein.

我自己也有过无数次的念头,是不是也回到家做个家庭主妇?疫情之后,我基本上没回家,和我老公住在外面,我妹妹在家帮我照顾孩子。我的二宝都不认得我了,他看视频对我没感觉,我很失落,我生这个二胎不容易,出生的时候他有10斤,妊娠糖尿病我也得了,原本我还一直喂奶的,这一次也断了奶——做这个决定的时候,我有点难过,我老公就跟我说,他说人的一生能够遇到一件这样的事情,并且你不光是参与者,你还要带一个团队去打这场仗,那也是一件很有意义的事情,等将来一切都恢复正常以后大家再去回忆,也是一个很宝贵的经历。

Am 21. Februar hatte ich ein Gespräch mit der Krankenhausleitung. Ich hatte mir schon Fragen überlegt, z.B. ob sie die Maßregelung falsch finden? Ich hatte mir eine Entschuldigung gewünscht. Danach zu fragen, habe ich mich aber nicht getraut. Keiner hat sich auch in irgendeiner Form entschuldigt. Aber ich habe doch das Gefühl, die Sache hat gezeigt, dass man an seinem selbstständigen Denken festhalten muss,denn es muss Leute geben, die aufstehen und die Wahrheit sagen. In dieser Welt muss es verschiedene Stimmen geben, nicht?

2月21号早上领导和我谈话,其实我想问几个问题,比如有没有觉得那天批评我批评错了?我希望能够给我一个道歉。但是我不敢问。没有人在任何场合跟我说表示抱歉这句话。但我依然觉得,这次的事情更加说明了每个人还是要坚持自己独立的思想,因为要有人站出来说真话,必须要有人,这个世界必须要有不同的声音,是吧?

 

[3] https://commons.wikimedia.org/wiki/File:关于做好不明原因肺炎救治工作的紧急通知.pdf

[5] Tan Jianxing 覃建行"新冠肺炎"吹哨人" 李文亮:真相最重要" (Li Wenliang, der "Whistle blower" der neuartigen vira1en Lungenentzündung: Am wichtigsten ist die Wahrheit). Caixin 财新, 7. Februar 2020. https://china.caixin.com/2020-02-07/101509761.html

[6] Laut per Weibo zirkulierenden Nachrichten, gebar Li Wenliang's Frau am 12. Juni einen gesunden Sohn. (weibo #6 月12 日, 李文亮妻子在武汉生下二宝。 )

[7] Zhou Jian: "Meine 168 Stunden mit Li Wenliang" (我和李文亮的168小时). http://www.worldhm.com/jqxw/206442.html

[9] "Li Wenliang, der "Whistleblower" der neuartigen viralen Lungenentzündung: Am wichtigsten ist die Wahrheit," in Caixin 财新, 7. Februar 2020.  

[10] NY Times 7. Februar 2020.

[11] In meinem Beitrag vom April ist die Übersetzung des Titels fehlerhaft und die Angabe, Ai Fen sei Stationsleiterin der Infektionsabteilung falsch. Beide Irrtümer möchte ich hiermit korrigieren.

[12] https://web.archive.org/web/20200329130816/http://boyamedia.com/categoiy/detail/l 3249/ (Der ursprüngliche Link funktioniert nicht mehr, die Redaktion hat diesen gefunden: https://www.dw.com/zh/%E7%96%AB%E6%83%85%E6%9C%9F%E9%97%B4%E7%9A%84%E5%88%A0%E5%B8%96%E4%B8%8E%E5%93%A8%E5%A3%B0/a-52721393)

 

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Letzte Änderung: 21.09.2020
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