Ein chinesischer „independent film“ vor dreißig Jahren: Liulang Beijing 流浪北京

Vor dreißig Jahren wurde der chinesische Dokumentarfilm Liulang Beijing 流浪北京 – ­ Bumming In Beijing: The Last Dreamers fertiggestellt. Der Drehbeginn war 1988, das Jahr in dem auch die bekannte Fernsehserie Heshang produziert wurde. Die Zeit vom 13. Parteitag im Herbst 1987 bis zum Tod Hu Yaobangs im Frühjahr 1989 war ziemlich entspannt; es war die Ruhe vor dem Sturm.

Der Film porträtiert vier Künstler und eine Schriftstellerin in der chinesischen Hauptstadt.

Eine Besonderheit bei diesen jungen Menschen war, daß alle nicht aus Beijing stammten; zwei kamen aus dem Nordosten Chinas, drei aus dem Südwesten. Daher hatten sie alle in der Stadt einen unklaren, z. T. illegalen Status.

Eine zweite Besonderheit war, daß sie sich oft in der bekanntesten Universität der Stadt im Bezirk Haidian aufhielten, obwohl sie nicht dort studierten; sie waren oft im Buchladen und in der Mensa und kannten viele Studierende und einige Dozenten. So gab es auch viele Begegnungen mit ausländischen Studierenden; zwei der fünf sah ich damals auch.

Ein dritter interessanter Aspekt ist, daß einige alte Häuser und Stadtviertel gezeigt wurden, die inzwischen verschwunden sind. Da ich den Film erst nach der Jahrhundertwende sah, wurde ich mit einer längst vergangenen Welt konfrontiert.

Am Anfang des Films werden die fünf vorgestellt:

Zhang Ci 张慈 (*1962), Schriftstellerin aus Yunnan

Zhang Dali 张大力 (*1963), Maler aus Heilongjiang

Gao Bo 高波 (*1964), Photograph aus Sichuan

Zhang Xiaping 张夏平 (*1961), Künstlerin aus Yunnan

Mou Sen 牟森 (*1963), Theaterregisseur aus Liaoning

Der Filmregisseur Wu Wenguang 吴文光 (*1956),  der sich – wie der etwas ältere und bekanntere Zhang Yimou – vom Kameramann zum Regisseur entwickelte, kam auch aus Yunnan.

Ich hatte in den frühen achtziger Jahren auch einige Schriftsteller wie Bei Dao, Duo Duo und Kong Jiesheng getroffen, die etwa zehn Jahre älter waren als die fünf Protagonisten dieses Films. Dabei konnte man erhebliche Unterschiede zwischen den beiden Gruppen feststellen. Die älteren waren mehr von der Kulturrevolution geprägt und waren aus den Großstädten aufs Land geschickt worden. Die jüngeren Künstler kamen aus den Provinzen in die Hauptstadt. Sie waren weniger politisch und wollten nur ein freies, individuelles Leben mit Musik, Kunst, Theater und Film führen. Da sie fremd in Beijing waren, gab es natürlich ein stärkeres Gefühl der Verlorenheit. Gleichzeitig schätzten sie – wie viele in Berlin, London und Paris – die Anonymität der Millionenstadt.

Während Bei Dao, Duo Duo, Chen Kaige und Zhang Yimou im vierzigsten „Lebensjahr“ der Volksrepublik China schon etablierte –  wenn auch umstrittene – Dichter und Künstler waren, standen die hier gezeigten Künstler und ihr Regisseur erst am Anfang ihrer Karriere.

Im Film wird auch deutlich, daß diese Gruppe vom Ausland träumte. Zuerst ging Zhang Ci nach Amerika, dann Zhang Dali nach Italien, dann gingen zwei weitere nach Europa. (Die meisten haben Ausländer geheiratet.)

Nur Mou Sen blieb länger in Beijing. Er sagte, daß er mit jeder Theateraufführung neue Freunde bekam und immer mehr Geistesverwandte kennenlernte. Das war der Vorteil der Gruppenarbeit, die anderen vier waren eher Einzelgänger. Der Film zeigt auch, daß eine der Künstlerinnen bei einer Ausstellung einen Nervenzusammenbruch erlitt und dann ins Krankenhaus gebracht wurde.

Die Welt der „fünf“ von 1988/89 existierte schon zwei Jahre später nicht mehr.

Der Film war avantgardistisch, da es ähnliches im VR-Kino vorher nicht gegeben hatte. Allerdings gab es ein literarisches Vorbild: die Reportageserie Beijingren, die Mitte der achtziger Jahre von Zhang Xinxin und Sang Ye in verschiedenen Literaturzeitschriften publiziert worden war und sich großer Beliebtheit erfreute. (In Deutschland gab es die Pekingmenschen als dtv-Taschenbuch.)

PS:

Ein Problem mit dem Film ist, dass es mehrere Fassungen gibt. So sieht man in einer DVD-Version aus Beijing nur 70 min, Berichte von Filmfestivals erwähnen bis zu 150 min. Das führt dazu, dass Meinungen über Stärken und Schwächen des Werks auseinandergehen und dass Bilder und Zitate aus dem längeren Film in den kürzeren Fassungen zum Teil nicht zu finden sind. Es ist überraschend, daß kurz nach 1989 so ein Film überhaupt veröffentlicht werden konnte.

Dr. Thomas Kampen

Nl 102 06 1

 

Zuletzt bearbeitet von:
Letzte Änderung: 06.04.2020
zum Seitenanfang/up