Wu Tiao Ren – Shanzhai, Rock und unvollende Moderne

Was haben eine im Wind faltende rote Plastiktüte, Lederjacken und Flipflops gemeinsam? Sie sind alle Markenzeichen einer Band, welche Guangzhou entwachsen sind und mehr noch als Beispiel für das, was man die Kultur des Südens nennen könnte, steht. Für die Dialektkulturen genauso wie den Straßenverkäufern, den Wanderarbeitern oder allgemein der Lebenskultur, welche auf dem Land in den Städten sowie den Zwischenraumen stattfindet. Und diese Band ist Wu Tiao Ren; ja das ist wirklich ihr englischer Name. 

Wu Tiao Ren 1

Diese eigenwilligen Entscheidung die Pinyin Umschrift ihres chinesischen Namens 五条人 wu tiao ren, welcher aber auch nicht mehr besagt als das es sich um fünf Menschen handelt (wobei 条tiao einfach nur das Zähleinheitswort in ihrem Dialekt für Person ist), für ihren englischen Namen herzunehmen lässt sie schonmal gewollt aus der Masse an Chinesischen Rockbands herausstechen. Diese habe meist ‚offizielle‘ englische Übersetzungen oder deren Namen sind schon in englischer Sprache. Namehafte Beispiel sind Hedgehog 刺猬 (ciwei), Snapline oder vielleicht bekannter Tang Dynasty 唐朝 (tangchao). Diese Namenspraxis erinnert eher an Markennamen, welche einen bei der Suche nach preiswerter Elektronik begegnet. Sicherlich ist dies keine zufällige Anspielung auf Shanzhai 山寨. Shanzhai bezeichnet eigentlich Bergfesten von Banditen. Die Bezeichnung wurde in Hong Kong auf kleine Familienbetriebe angewandt, die ‚knock-off‘ Produkte herstellten. Mit der Ausdehnung dieses Geschäft auf dem Festland wurde Shanzhai langsam ein Sammelbegriff für viele Überschreitungen von Markenrechten und des geistigen Eigentums. 

 

Wu Tiao Ren lasst sich von Beginn an mit einem solchen mehr oder minder kreativen Umgang mit geistigem Eigentum in Verbindung bringen. So waren die beiden Hauptfiguren der Band Ren Ke 仁科 und Ah Mao 阿茂, einst in den Nullerjahren Straßenverkäufer für Bücher und CD in der Nähe der South China Normal University in Guangzhou. Dabei war es zu der Zeit eigentlich eine leichte Arbeit, wie sie in einem Gespräch mit dem Regisseur Jia Zhangke 贾樟柯 verraten, was ihnen viel Zeit lies um Geschichten aufzusaugen und die Menschen ihrer Umgebung tiefer zu beobachten. Dieser Phase in ihrem Leben habe sie auch ein, eventuell utopisch-ironisches, Lied Plenty and more (很多很多 henduo henduo) gewidmet. Utopische deshalb, weil das Lied davon handelt, wie eine ‚Stadtverwalter‘ (城管 chengguan) welche sonst berüchtigt sind für ihren harthändigen Umgang mit Straßenverkäufern sich bei verschiedensten solchen Straßenhändler über das sehr gut laufende Geschäft erkundigt. Doch Shanzhai wir in ihren Händen auch zur kreativen Praxis, wenn etwa Tom Waits Lied Cold Cold Ground zu einem Lied über Währungsschwarzmarkt in der Küsten Region Guangdongs namens Exchange to Hong Kong Dollars(倒港纸 dao gangzhi) wird. Hier wird Shanzhai zum kreativen Mittel, um über lokale Gegebenheiten zu berichten. In ihrer Heimatstadt findet man wohl immer noch fragliche Gestalten mitten auf der Straße sitzend, welche scheinbar, die sich wiederholende Textzeile aus dem Lied, an einem richten: „Hast du nicht [ein paar] Hong Kong Dollars (你有没有港币呀 Ni you gangbi ma)?“ 

 

Wie die meisten ihrer Lieder vom ersten Album ist auch dieser in dem Min-Dialekt welchen man in Haifeng 海丰, ihrer ersten Heimat spricht. Dabei ist die Benutzung von Dialekten in 

der chinesischen Rockszene eigentlich ein Tabu oder zumindest etwas, was einem außer bei einzelnen Musikkritiken keine Extrapunkte einbringt. Das haben auch Wu Tiao Ren erfahren müssen, als sie an der zweiten Staffel vom nationalen Indiebandcontest The Big Band (乐队的夏天, Yuedui de xiatian) teilnahmen, welcher vom Netflix äquivalent iQiyi (爱奇艺, aiqiyi) ausgestrahlt wurde. In einem Rocker würdigen Akt hatte sich die Band im letzten Moment entschieden ihr in Hochchinesisch verfasstes Lied I’ll tell you when problems come (问题出现我再告诉大家, wenti chuxian wo zai gaosu dajia) gegen den Haifeng-Dialektsong Daoshan Dude (道山靓仔, daoshan liangzai) über einen unverbesserlichen Jüngling der ins Gefängnis gehen muss, einzutauschen. Nicht nur das Unverständnis, was in die Gesichter  der Juroren geschrieben war, auch das eventuelle verfrühte Ausscheiden nahmen sie somit scheinbar leichtfertig in Kauf. Und so kam es auch, doch nur zunächst, denn Online hatten sie nach ihrer Aktion eine Begeisterungswelle losgetreten, die sie zurück in den Wettbewerb trieben und sogar auf den zweiten Platz in der Endwertung. 

 

Doch mit der damit erreichten nationalen Berühmtheit endete ihre Reise nicht. Ren Ke der Straßenbücherhändler von einst, welcher sich selbst nun als Autor hervorgetan hat und unter anderem Model stand in einer Fotoserie in der Vogue China , wurde vor kurzem als Gast zu einem Vortrag „What China’s Coolest Rock Band Can Tell Us About the Nation’s Cultural Shifts“ an das Fairbank Center der Harvard Universität eingeladen. In dem einleitenden Vortag von Zheng Lin 林峥 ging es vor allem darum wie Wu Tiao Ren exemplarisch für die einmaligen Nachbarschaften der ‚Dörfer in der Stadt‘ (城中村, cheng-zhong-cun) und einer Kultur bzw. Lebensweise welche die Vortragende als unvollendeten Moderne (unfinished modernity) bezeichnet, steht. Dabei kommt sie natürlich auch auf die Shanzai-Thematik zu sprechen. 

Wu Tiao Ren 4

Auch wenn durch das Event durch das Publikum eins für die vielen Fans wurde, welche sich zahlreich unter den Studenten und Gastwissenschaftlern fanden, so hat Zheng Lin doch auch einen Punkt getroffen wenn sie Wu Tiao Ren als Paradebeispiel für die Kultur des Südens hernimmt. Dabei könnte dies Oberflächlich mit deren Sound und dem häufig zu hörenden Akkordeon erklären. Doch eigentlich sind es ihre Texte voll von Anspielungen, versteckten Referenzen und Lokalen Dialekten, die einem nicht nur Einblicke gewährt, sondern die Menschen und Umwelt wirklich hörbar und somit noch einfühlbarer macht. Wie schon beim Lied Exchange Hong Kong Dollars. 

 

Ein weiteres Beispiel für die Anspielungen und versteckten Referenzen wäre das Lied Dreamy Lisa Salon (梦幻丽莎发廊, menghuan lisha falang) und die letzten Zeilen der ersten Strophe: 

 

她来自梦幻丽莎发廊            Sie kommt aus dem Mona Lisa Frisörsalon 

她说她家里很穷很乡下         Sie sagte, ihre Familie sehr arme ist, sehr dörflich 

只有山和河没有别的工作     Es gibt [dort] nur Berge und Flüsse und keine andere Arbeit 

年轻的时候她被别人骗         Als sie jung war wurde sie von jemanden betrogen 

被卖去一个陌生的地方         Und an einen unbestimmten Ort verkauft 

Wu Tiao Ren 2

Zunächst ist die sehr bildliche Darstellung von der Situation in des Heimat Dorfs der Frau hervor zu haben. Das es neben Bergen und Flüssen keine andere Arbeit gibt, vermittelt direkt eine Vorstellung, dass dieses ein Ort ist, dem man nichts weiter als entkommen möchte. Doch genau so wird durch Erwähnung, dass sie verkauft wurde, sehr schnell klar, dass es sich hier nicht um eine Frisöse handelt, sondern eher um eine Sexarbeiterin, welche in einem als Frisörladen getarnten Bordell arbeitet, was eine relativ übliche Camouflage ist. Der Name des Salons – träumerische Lisa – spielt dabei auch indirekt auf die Träume an, welche die unbenannte Frau noch festhält und durch welche sie in der weiteren Folge des Songs wieder, diesmal vom Erzähler des Lieds, betrogen wird. Der Name kann aber auch im Sinne von Shanzhai als Anspielung an Mona Lisa verstanden werden welches zwar gewöhnlich anders übertragen wird. 

 

Die starke Verwendung von Dialekten wurde schon erwähnt aber wohl einer der eindrucksvollsten Verwendungen ist Mr Chen (陈先生, Chen xiansheng) eine Hommage an den Juristen, Revolutionär, Politiker und Militärführer Chen Jiongming 陈炯明 (1878- 1933). In dem Lied werden die drei Lebensstationen Geburt in Haifeng, Tod in Hong Kong und Errichtung seines Grabs in Huizhou 惠州 in jeweils lokalen Dialekten also Min-Dialekt, Kantonesisch und Hakka aufgezählt. Chen ist selbst eine problematische Figur der chinesischen Geschichte, vor allem, weil er sich im Bezug zum Nordfeldzug gegen Sun Yat-sen gewandt hat. Trotzdem ist er für Wu Tiao Ren selbst ein erinnerungswürdiger Lokalcharakter. Dabei ergänzen die verschiedenen Dialekte akustisch, was nicht gesagt wird, und geben so Raum sowie anlas sich sein Leben verbunden mit den Orten vorzustellen. 

 

Auch wenn es an diesen von Wu Tiao Ren beschrieben Orten wie wir gesehen haben von Dorfbewohner, Wanderarbeiter, Sexarbeiter, Straßenverkäufer und selbst Killern also ‚kleinen Leuten‘ (小人物, xiaorenwu) nur so wimmelt, soll das nicht heißen, dass sie damit einen absichtlichen (politischen) Standpunkt einnehmen. Viel mehr kommt das daher, wie Ren Ke in einem Interview beschriebt, dass diese Menschen nun mal die sind, welche sie kennen, und diese Geschichte nun mal die sind, welche um ihnen herum sich so zugetragen haben. 

Wu Tiao Ren 3

Wer nun noch mehr von diesen Menschen und ihren Geschichten erfahren möchte, kann eventuell mit dem Album Dreamy Lisa Salon anfangen, weil zunächst viele der Lieder, welche hier erwähnt werden, wie der gleichnamige Song und auch Plenty and more. Darüber hinaus ist der Anteil an hochchinesischen Liedtexten eher hoch was den Einstieg erleichtert. Des Weiteren ist die Webseite https://wutiaoren.info/ eine unerschöpfliche chinesische Quelle für Leidtexte, Hintergrundinformationen, Berichte, Interviews und vieles mehr.

von Joost Brokke

Zuletzt bearbeitet von: Joost Brokke
Letzte Änderung: 28.05.2023
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