Levine, Marilyn (2021): "Post WWI Chinese Revolutionary Leaders in Europe". In: Journal of Historical Network Research 5, S. 187–232 (Rezension)

In ihrem Artikel „Post WWI Chinese Revolutionary Leaders in Europe” von 2021 analysiert Marilyn Levine die Struktur der KPC-Führung in den ersten Jahrzehnten seit ihrem Bestehen. Untersuchungsgegenstand sind chinesische Revolutionsführer, die in den 1920er Jahren in Westeuropa und in der Sowjetunion ausgebildet wurden (engl. „Soviet Returned Leaders“, SRL). Diese Revolutionsführer können in zwei Gruppierungen unterteilt werden: Erstens, diejenigen, die sowohl in der Sowjetunion als auch in Westeuropa ausgebildet wurden, und zweitens, diejenigen, die nur in der Sowjetunion ausgebildet wurden. Durch die historische Netzwerkforschung können zum einen Untergruppen identifiziert werden, die ähnliche Verhaltensmuster aufweisen oder in einer bestimmten Beziehung oder einem Zusammenhang zueinanderstehen. Zum anderen untersucht der Ansatz, welche Auswirkungen die politischen Führer (unabhängig von ihrem Bekanntheitsgrad und Einfluss) als Individuen oder Gruppen auf die Parteistruktur oder den Geschichtsverlauf hatten (Levine 2021, 187-188; 227).

Im Rahmen ihrer Forschung stützt sich Levine auf quantitative, raumbezogene und netzwerkanalytische Methoden. Erstere beinhalten die Auswertung von Geburtsjahr, Todesjahr und Lebensdauer der chinesischen Revolutionsführer; zweitere untersuchen die regionale Herkunft und Geburtsstädte der politischen Führer zur Identifizierung räumlicher Zusammenhänge. Die netzwerkanalytischen Methoden geben zusätzlichen Aufschluss über die Vernetzung der Individuen. Levine untersucht dabei erstens Zentralitätsmerkmale,  zweitens den Zusammenhalt des Netzwerks sowie das Verhältnis von Kern und Peripherie und drittens die netzwerkinternen Strukturen z. B. durch die Bildung von Untergruppierungen.

Mithilfe der Ergebnisse aus der Analyse interpretiert Levine die Machtpositionen und Vernetzungen einzelner politischer Führer der SRL, die teilweise vorherigen Erkenntnissen widersprechen. Ein Beispiel dafür ist die Struktur innerhalb der 28 Bolschewiken (Gruppe stalinistisch orientierter Chinesen, die in den 1920er und 1930er Jahren in Moskau studierten) auf die im Folgenden noch näher eingegangen wird (Levine 2021, S. 224–225). Mithilfe der Zentralitätsanalyse, der Analyse des Netzwerkzusammenhalts und der netzwerkinternen Strukturen weist Levine zudem nach, dass es sich bei den SRL um ein schnelles, effizientes, und starkes Netzwerk handelt. Dieses Netzwerk ist nach Levine ein Hauptgrund für das Überleben der Partei (Levine 2021, S. 225). Darüber hinaus zeigt Levines Netzwerkanalyse einige Aspekte auf, die entscheidend für die Machtstellung und Amtsdauer der Individuen gewesen sein können. Bei Zhou Enlai (周恩来 1898-1976), der trotz der vielen politischen Unruhen nach 1949 bis zu seinem Tod im Amt blieb, fielen drei der vier oben aufgeführten Zentralitätsmerkmale sehr hoch aus. Beispielsweise erzielte Zhou die höchste „Degree-Zentralität“ aus der Gruppe der SRL. Er  fungierte als Bindeglied zwischen verschiedenen Gemeinschaften und stellte einen wichtigen Kommunikationskanal dar (Levine 2021, S. 225). Im Vergleich zu späteren KPC-Führern hebt Levine hervor, dass Zhou Enlai zwar bemüht war, seine Machtposition zu erhalten, dabei jedoch nicht versuchte, noch höhere Positionen zu erreichen. Zhang Guotao (张国焘 1897-1979), als Gegenbeispiel, war in den 1930er Jahren bei dem Versuch gescheitert, seine Macht weiter auszubauen (Levine 2021, S. 225). Die Machtkämpfe in den 1920er und 1930er Jahren, argumentiert Levine, könnten Zhou Enlai davon abgehalten haben, noch höhere Positionen anzustreben. Zudem konnte er seine Ziele größtenteils bereits mit seiner Position bzw. Stellung erreichen (Levine 2021, S. 225).

Des Weiteren stellt Levine die These auf, dass spätere politische Führungskräfte wie Zhao Ziyang (赵紫阳 1919- 2005) oder Bo Xilai (薄熙来 1949-) deshalb vulnerabler gewesen sein könnten, da sie trotz ihrer weniger umfassenden Vernetzung im Vergleich zu Zhou Enlai immer höhere Positionen anstrebten. Dabei konnten Zhao und Bo manche Phasen politischer Schwankungen nicht überstehen. Zuletzt geht Levine davon aus, dass Zhou Enlai durch seine Erfahrungen in Westeuropa und in der Sowjetunion besser an das stetig wechselnde politische Klima der KPC Revolution angepasst gewesen sein könnte (Levine 2021, S. 225).

Neben Zhou Enlai geht Levine auch auf die außergewöhnliche Stellung von Liu Shaoqi (刘少奇1898-1969) ein. In ihrer Untersuchung zeigen sich bei Liu ebenfalls stark ausgeprägte Zentralitätsmerkmale. Zwar stellte Liu weniger ein Bindeglied zwischen verschiedenen Gemeinschaften dar, jedoch spielte seine Herkunft aus der Provinz Hunan (湖南) eine entscheidende Rolle. Liu Shaoqi wurde später als Nachfolger Mao Zedongs positioniert, der ebenfalls aus Hunan stammte. In diesem Zusammenhang wirft Levine die Frage auf, inwiefern regionale Verknüpfungen eine Rolle für den politischen Werdegang gespielt haben dürfen (Levine 2021, S. 225–226).

Zuletzt weist Levine noch auf ein Duo chinesischer Revolutionsführer hin: Cai Chang (蔡畅 1900-1990) und Li Fuchun (李富春 1900-1975), die in der Zentralitätsanalyse ebenfalls hohe Werte erzielten. Zudem verfügten sie über einen großen Einfluss in der Gruppe euro-sowjetischer Rückkehrer. Die Ergebnisse in den verschiedenen Kategorien der Zentralitätsanalyse geben bereits Hinweise darauf, dass beide Politiker einflussreiche Führungskräfte mit einer besonderen Nähe zu mächtigen Gemeinschaften und Verbünden waren. Jedoch waren ihre Werte in der "Betweenness-Zentralität” niedriger. So stellt Levine zum einen die Frage, inwieweit sich Cai und Li als Mediatoren und wichtige Individuen in das politische Netzwerk integrieren konnten. Zum anderen hinterfragt sie auch das Verhältnis bzw. die Abhängigkeit der beiden Hunan-stämmigen Politiker Cai und Li von den Sichuan-stämmigen Führern Deng Xiaoping (邓小平 1904-1997) und Nie Rongzhen ( 聂荣臻 1899-1992) (Levine 2021, S. 226).

Mit der netzwerktheoretischen Untersuchung konnten nicht nur Individuen der politischen Netzwerke genauer auf ihren Einfluss hin untersucht werden, sondern auch Führungsdynamiken in den Untergruppierungen der SRL neu erforscht und betrachtet werden. Beispielsweise widerlegt Levine die Annahme, dass Wang Ming (王明 1904-1974) der Hauptanführer der 28 Bolschewiken war. Stattdessen hebt sie die deutlich ausgeprägtere Vernetzung und Einflussnahme von Zhang Wentian (张闻天 1900-1976) innerhalb der 28 Bolschewiken hervor (Levine 2021, S. 212).

Auch bestätigt Levines netzwerkanalytische Untersuchung die von Thomas Kampen aufgestellte These, dass die 28 Bolschewiken keine einheitliche Gruppe waren und auch nicht als solche betrachtet werden können. Vielmehr arbeiteten die Mitglieder der 28 Bolschewiken-Gruppe mit Zhou Enlai zusammen, der über eine zentralere Rolle und ausgeprägtere Vernetzung verfügte. Manche Mitglieder der 28 Bolschewiken wie Wang Ming, Zhang Wentian, Wang Jiaxiang (王稼祥1906-1974) oder Qin Bangxian (秦邦宪 1907-1946) hatten dennoch, als Individuen betrachtet, eine besondere Machtposition und eine zentrale Rolle in der Gruppe der SRL inne (Levine 2021, S. 226).

Abschließend lässt sich sagen, dass Levines Netzwerkforschung eine wichtige Herangehensweise an die (mitunter biographische) Forschung zu politischen Führungskräften zur Zeit der kommunistischen Revolution in China darstellt. Zudem bringt die Netzwerkforschung neue Perspektiven und Erkenntnisse zu den Wirkungen politischer Individuen und Gruppen im Revolutionsprozess ein, die auch zu einem gewissen Maß historische Ereignisse wie Führungswechsel erklären können. Zukünftige Forschungen könnten weiter auf die regionale Verteilung von Revolutionsführern eingehen und sich mit der Frage beschäftigen, inwiefern sich regionale Cluster in der Politik bis zur Gegenwart durchgesetzt haben. Wie beeinflusst beispielsweise die regionale Verteilung der politischen Führungskräfte der KPC die Herausbildung nachfolgender Führungskräfte? Kann die räumliche Komponente (in dem Fall die Übereinstimmung der Herkunftsorte von politischen Führungskräften), auf die Levine in ihrer Forschung Bezug nimmt, auch über einen längeren Zeitraum von mehreren Jahrzehnten betrachtet werden? Und wie hat die Tatsache, dass viele Führungsmitglieder bspw. aus Hunan oder Sichuan stammten, die politische Landschaft für die zukünftigen Generationen geprägt? In dieser Hinsicht bildet Levines Untersuchung der Netzwerke chinesischer Revolutionsführer nach dem 2. Weltkrieg einen wichtigen Grundstein für die weitere Forschung zu politischen Gebilden in der Republik China sowie in der Volksrepublik China.

 

Belinda Uebler

 

Literatur:

Levine, Marilyn (2021): "Post WWI Chinese Revolutionary Leaders in Europe". In: Journal of Historical Network Research 5, S. 187–232.

 

 

Zuletzt bearbeite von:: Joost Brokke
Letzte Änderung: 01.11.2022
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