Der Übersetzer als Dichter

Wie kann man Lyrik aus anderen Sprachen nachempfinden? Zur exemplarischen Bedeutung des Sinologen und Germanisten Günther Debon.

 

Das Übersetzen steht weltweit noch nicht in der Achtung, die ihm eigentlich gebührt. Von Land zu Land verschieden, kommt ihm mal weniger Aufmerksamkeit wie in den Vereinigten Staaten, mal mehr wie in Deutschland entgegen. Man sieht in ihm oftmals eher ein Handwerk, das jeder erledigen kann, als eine Kunst, die eigentlich der Ausbildung bedarf. Dies gilt je nach Sprache und Fachausrichtung mitunter selbst noch in deutschen Landen. Ich muss mich hier beschränken. Mein Gegenstand ist die Sinologie, mein Thema die Übersetzung aus dem Chinesischen.

Über die Fachkreise hinaus ist bislang neben Günter Eich (1907 bis 1972) lediglich Günther Debon (1921 bis 2005) als überragender deutscher Übersetzer chinesischer Lyrik bekannt geworden. Der reifende Dichter Eich lernte sein Chinesisch früh von 1925 an in Orten wie Leipzig und der angehende Sinologe Debon spät von 1948 an in München. Beide waren in der Kriegsgefangenschaft, der eine in amerikanischer, der andere in englischer. Im Falle von Günther Debon, der einer hannoverschen Fabrikantenfamilie entstammte, waren die dreieinhalb Jahre in England schicksalhaft. Während der Internierung lernte er nämlich den bedeutenden Kunsthistoriker Werner Speiser (1908 bis 1965) kennen, der ihm die chinesische Schrift erläuterte.

Was Eich und Debon eint, ist die Tatsache, dass auch der Jüngere über die Zeit zum Dichter reifte. Allerdings trennen beide Welten: Der Ältere war ein moderner Poet, der Nachgeborene fühlte sich der Goethezeit verbunden. Beide begannen nahezu gleichzeitig zu übersetzen - Eich 1949 bis 1951, Debon über 1949 hinaus -, aber ihre Elaborate wurden unterschiedlich publiziert: Eichs anscheinend erst postum 1973, Debons von 1952 an. So oder so sind es Sternstunden der Dichtung. Haben diese geheimen Wettstreiter Schule gemacht?

Mit dieser Frage beginnt unser Problem. Die deutschen Universitäten waren einmal Hochburgen für die klassische chinesische Literatur. Nicht nur mit dem Tod von Günther Debon oder von Alfred Hoffmann (1911 bis 1997), sondern auch mit der Emeritierung beziehungsweise Pensionierung von deren Schülern ist eine Ära zu Ende gegangen. Die aktive Beschäftigung mit dem schöngeistigen Vers, dem kunstvollen Lied, dem meditativen Essay, dem liebestollen Roman oder dem reflektierenden Theater früherer Jahrtausende findet weiter fast nur außerhalb der Hochschulportale statt, insbesondere deren Übertragung. Ein wesentlicher Grund ist der Schwenk vom antiken zum modernen China und damit zu Politik sowie Wirtschaft.

Gleichwohl ist Gerechtigkeit geboten: Bis zu Günther Debon war die Übersetzung von klassischer chinesischer Poesie an den Universitäten mehr oder minder eine philologische Angelegenheit, das heißt, man übertrug korrekt, aber weniger gut lesbar. Fachleute arbeiteten für Fachleute, nicht für ein größeres Publikum. Das beste Beispiel hierfür ist der Österreicher Erwin Ritter von Zach (1872 bis 1942). Seine allerdings außerhalb jeglicher Akademie angefertigten Gesamtübersetzungen (zum Beispiel von Li Bai, einem Dichter des achten Jahrhunderts) erfreuen sich keinerlei Leserschaft, obwohl es derlei Leistungen in keiner einzigen westlichen Sprache zu würdigen gibt.

Was hat nun Günther Debon anders gemacht? Er hat sein Prinzip wenig dargestellt, aber es lässt sich durch Aussagen von Kollegen untermauern. Und hiermit öffnen sich uns zwei Tore: das der Philologie und das der Übersetzungswissenschaft. Bei der chinesischen Lyrik unterscheidet man kurz gesprochen die vorklassische von der klassischen und der nachklassischen Periode. Debon hat sich hauptsächlich für den mittleren Abschnitt starkgemacht, den man vereinfacht vor allem mit der Tang-Zeit (618 bis 907) gleichsetzt. Da herrschten "alte" und "neue" Formen vor. Reime waren immer gegeben, aber die vier offiziellen Tonhöhen der chinesischen Sprache machten den Unterschied aus. Die jeweils fünf beziehungsweise sieben Zeichen eines Verses hatten im Rahmen eines Vier- oder Achtzeilers eine bestimmte Abfolge einzugehen, die wir mit Hebung und Senkung in einer deutschen Strophe vergleichen können.

Im Gegensatz zur Mehrheit der Übersetzerzunft hat Günther Debon den Reim beizubehalten versucht und die je fünf beziehungsweise sieben Zeichen im Deutschen einem entsprechenden Fünfer- beziehungsweise Siebener-Rhythmus unterworfen. Dem altertümlichen Vokabular des Originals kam er durch inzwischen entlegene Wörter der Muttersprache nahe, als da zum Beispiel sind: Haag, Bühl, Schratte. Und damit treten wir durch das zweite Tor und kommen zum eigentlichen Problem. Vorher gilt es aber eine Anekdote zu erzählen.

Günther Debon lernte an der Universität München Wolfgang Bauer (1930 bis 1997) kennen. Dieser große Sinologe wurde sein erster Bewunderer. Grund waren Debons frühe gelungene Übertragungen. So vertraute der ältere Kommilitone dem jüngeren etwas an: Er habe in der Gefangenschaft, um sich konzentrieren zu lernen, einmal zwei Wochen lang geschwiegen, aber niemand habe das bemerkt.

In Debons Arbeitszimmer an der Universität Heidelberg (wo er von 1968 bis 1986 lehrte) soll nur ein einziges chinesisches Schriftzeichen als Schmuck gehangen haben: das für "Geduld". Was schließen wir daraus und aus der Anekdote? Der Lehrstuhlinhaber war, wie seine Studenten ihn schildern, ein strenger, achtsamer Mann, er war ein konfuzianischer Edler, der sich seiner Sache vollkommen verschrieb, ohne dass die Genialität seines Tuns zunächst von seiner Umgebung bemerkt worden wäre. Er war ein Mann von Zucht und Ordnung im guten Sinne.

 

Debon Kalligrafie
"Ren" zierte Günther Debons Büro. Foto: Susann Henker.

 

Und wo ist das Problem? Obwohl er keine Germanistik studiert zu haben scheint, etablierte sich Günther Debon in den letzten Jahren seines Lebens als Goethespezialist. Sein Hang zu Weimar hatte schon vorher auf seine Arbeit als Übersetzer abgefärbt. Er lehnte eine moderne Übersetzungsweise ab. Ihm wäre es also nie in den Sinn gekommen, wie Ezra Pound das Prinzip "Make it new" nicht nur zu fordern, sondern gar in die Praxis umzusetzen. Seine Devise führte ihn aber zu etwas, das bis zu seinem Tod zu Unrecht als "Biedermeier-Stil" belächelt wurde. Ich muss gestehen, dass ich als angehender Studiosus der Sinologie ebenfalls zu den Spöttern gehört habe.

 

Make it new: Das erleben wir bis heute. Thomas O. Höllmann, der Emeritus der Universität München und Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Sinologe und Übersetzer, lässt seine poetischen Freunde im alten China beim Dichten Lammsbräu und Märzen trinken. Das Tor, welches sich hier auftut, ist das Tor der Sprache. In welche Sprache übersetzen wir? Eigentlich nur in die unsere, die heutige. Und ebendas macht Günther Debon nicht. Er überträgt in eine Sprache, die es so nicht mehr gibt, die illusionistisch dem alten China nahezukommen scheint, aber nicht über das achtzehnte Jahrhundert hinaus zurückgeht!

Ezra Pound zog dagegen den Stil seiner Zeit vor. Damit erfand er nicht nur, wie es heißt, die "chinesische Poesie", sondern auch sich selbst und eine neue englischsprachige Dichtung. Seine Übertragungen nach den Vorlagen eines Japanologen gelangen ihm derart perfekt, dass sie selbst heute noch, wenn auch nicht mehr als eigene missverstanden, so doch als große Dichtung angesehen werden.

Steht somit Pound als Sieger fest? Besonders wenn man bedenkt, dass es Höllmann und der heutigen Freiburger Kollegin Gudula Linck mit ihren Übertragungen gelingt, Vergangenes in der Gegenwart wiederauferstehen zu lassen? Ihre freien Verse strotzen vor Lebendigkeit. Man gewinnt fast den Eindruck, die nächste chinesische Person, die einem nach der Lektüre am Münster oder an der Frauenkirche begegnet, könnte nur ihren translatorischen Neigungen entsprungen sein.

Und ich? Ich hatte mich nach meinen ersten Versuchen zum klassischen chinesischen Poem längst in die Moderne und Gegenwart geflüchtet, ganz die Prämisse des heute in Berlin lebenden Dichters Yang Lian im Ohr, eine Übersetzung habe in die Geschichte der deutschen Literatur einzugehen, das heißt, eine Übertragung, die ihren Namen verdient.

Was waren meine Schwierigkeiten? Es waren die aller Übersetzenden. Günther Debon sprach sie an: all die fremden Namen, ob Ort, ob Mensch; all die fremd wirkenden Anspielungen und Zitate; all die knappen Formen; all die inhaltlichen Kontraste und formalen Parallelen; all die Ästhetik der Subjektlosigkeit; all die Strukturen von These, Antithese, Synthese et cetera. Was tun? Aufgeben oder prosaische Zusammenfassungen mit Bemerkungen in Klammern anbieten, wie immer noch üblich? Doch: Nur so konnten und können Nachdichter vom Schlage Klabunds oder Hans Bethges (1876 bis 1946) mit ihren Chinoiserien seit hundert Jahren zu ihren großen Erfolgen gelangen. Oder obliegt es uns, selbst zum Dichter zu werden, um besser unsere Aufgabe der Übertragung zu erfüllen?

 

Hier scheiden sich manche Geister. Sinologe und Dichter? Das wird im Fach nicht verziehen! Häme ist die Folge. Günther Debon, der mit fünfzehn zu schreiben begann, schien das geahnt zu haben. Seine Limericks hat er 1961 unter einem Pseudonym zu veröffentlichen begonnen, bevor er sie, vierhundert an der Zahl, 1997 doch unter eigenem Namen herauszubringen wagte. Da waren ihm nicht mehr allzu viele Jahre beschieden. Zuvor war er jedoch 1989 bei der Veröffentlichung seiner gereimten Heidelberg-Gedichte ("Ein Lächeln Dir") mit vollem Namen für sie eingestanden. Meine eigenen Erfahrungen sind in diesem Zusammenhang ähnlich.

Es ist notwendig, einen Faden aufzunehmen: Was ist das Verhältnis von Übersetzung und Original? Der amerikanische Fachmann für Fragen wie diese, Lawrence Venuti, hat sich gegen die Einbürgerung eines fremden Textes ausgesprochen: Die Übersetzung solle als solche erkennbar bleiben. Wer übersetzt, habe mit der eigenen Tätigkeit in der Muttersprache aufzuscheinen. Das heißt im vorliegenden Fall, das Deutsche habe verfremdet, also sinisiert zu werden. So wären Klabund und Bethge gerechtfertigt. Günther Debon nicht? So mag es zunächst vorkommen. Doch als was soll der Übersetzer Debon in seinem Text durchscheinen? Venuti würde wohl antworten: jedenfalls nicht als "Biedermeier". Als was dann? Als Chinese! Als Chinese der Tang-Zeit?, frage ich.

Da ließe sich einwenden, dass nicht einmal eine moderne chinesische Übertragung als Hilfestellung für eine unkundige Leserschaft etwas von ihrem ursprünglichen Reiz bewahrt. Schauen wir uns daher einmal ein berühmtes Beispiel an. Es ist ein Vierzeiler vom erwähnten Li Bai, der in 28 Zeichen seinen Abschied von dem Freund Meng Haoran (circa 689 bis 740) am Jangtse beschreibt. Zunächst die Version von Günter Eich:

 

Vom Haus "Zum Gelben Kranich" hat der Freund Abschied genommen.

In Dunst und Blüte des Aprils ist seine Barke flussab geschwommen.

Einsames Segel, ferner Schatten, der im blauen Horizont entschwindet -

Ich sehe nur den weiten Strom noch, der zuletzt Im Himmel mündet.

 

Und nun die von Günther Debon:

 

Am Turm zum Gelben Kranich sprach der Freund ein letztes Wort.

Es war ein dunstiger März; das Boot trug ihn gen Yang-dschou fort.

Ein Segel, einsam und Meilen weit, entschwand im blauen Raum.

Ich sah den Strom, sah nur den Strom zerfließen am Himmelssaum.

 

Der dritte Vers eines klassischen Vierzeilers kennt eigentlich keinen Reim, beide Übersetzer haben diesen jedoch ebenfalls reimen lassen. Wie dem auch sei, bei allen Unterschieden ist jeweils gute Arbeit geleistet worden. Sogenannte Fehler finden sich keine, ohnehin spricht man heute in der Übersetzungswissenschaft nicht mehr von Fehlern, sondern lediglich von Differenzen in der Auslegung (hier etwa bei der Frage April oder März).

Eichs Übertragung wirkt einfacher und moderner, die von Debon strenger und klassischer, keinesfalls biedermeierhaft. Alles in allem jeweils Poesie pur. Zurück zu Venuti: Wo ist Li Bai? Es gibt in dem Original kein Subjekt, das Subjekt im Deutschen wurde hinzugedacht. Anders ging es wohl nicht. Lesen wir dennoch den chinesischen oder nur die beiden deutschen Dichter? Ich denke, wir lesen alle drei. Nur so hat alte Literatur uns heute noch etwas zu sagen.

Günther Debon hat eine große Schülerschaft hinterlassen. Unter denen, die sein Geschäft im engeren Sinne weitergeführt haben, sind vielleicht am ehesten drei zu nennen: Lutz Bieg, der neben Hartmut Walravens vielleicht beste Bibliograph in der sinologischen Welt; Volker Klöpsch, der sich seit Jahrzehnten erfolgreich die übersetzerische Aufarbeitung der klassischen chinesischen Dichtung vorgenommen hat; Goat Koei Lang-Tan, die Einzige, die in der Literaturwissenschaft die Ideen ihres Lehrers mit denen der Heidelberger Germanisten verbindet.

Günther Debon, der am 13. Mai einhundert Jahre alt geworden wäre, hat sich in den letzten Jahren seines Lebens immer mehr seiner Vorliebe für Weimar und China gewidmet. Dabei ist ihm manches Meisterwerk gelungen. Weniger beachtet blieb dagegen seine postum publizierte Poetik "Qualitäten des Verses". Sie bespricht nur das deutsche Gedicht, gäbe der Sinologenzunft jedoch guten Anlass, einmal den Zusammenhang von Dichten und Übersetzen zu bedenken. Nicht zufällig ist Debons Laotse dort gereimt, wo auch das Original Reime aufweist.



Von Wolfgang Kubin, welcher nach acht Jahren an der Beijing Foreign Studies University heute an der Universität Shantou chinesische und deutsche Geistesgeschichte lehrt.

 

Erstveröffentlichung in Frankfurter Allgemeine Zeitung Freitag, 30. April 2021

Zuletzt bearbeitet von: Joost Brokke
Letzte Änderung: 27.06.2022
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