Chinesische Biographien – Interviews – Oral History

Schon 1986 erschien auf Deutsch beim Diederichs Verlag (und später als dtv Taschenbuch) das Buch Pekingmenschen, das auf die in chinesischen Zeitschriften veröffentlichte Interviewreihe Beijingren zurückging. Als chinesische Autoren wurden Zhang Xinxin und Sang Ye genannt, der deutsche Herausgeber war der Bochumer Professor Helmut Martin; die Übersetzer(innen) waren größtenteils deutsche Sinologiestudierende und Doktoranden.

 

Drei Jahre später folgte der Band 100 unter 1 Milliarde – Gespräche mit Chinesen über Alltagsleben, Hoffnungen und Ängste von Liu Bingwen und Xiong Lei im Westdeutschen Verlag; Übersetzer waren Li Liangjian und Renate Zantis.

 

Diese Werke haben für das heutige Publikum den Vorteil, dass sie echt und authentisch aus den achtziger Jahren sind und nicht später überarbeitet, manipuliert oder verändert wurden. Da so viele Personen an der Produktion der Originaltexte beteiligt waren, zeigen sie die Vielfältigkeit der damaligen chinesischen Gesellschaft.

 

Auch wenn bei dem Band Pekingmenschen die Hauptstadt im Vordergrund steht, so ist doch der Horizont weiter als man glauben könnte. Mein Lieblingstext war schon beim ersten durchblättern der Zeitschriften Shanghai Wenxue, Shouhuo, Wenxuejia und Zhongshan (die mir damals von chinesischen Studentinnen empfohlen wurden) „Touyipi guke (Die ersten Gäste)“ über einen Herrn der länger im Ausland gelebt hatte und auch in China gern „ausländisch“ aß, jedoch jahrzehntelang dazu kaum Gelegenheit hatte: „Meine erste Informationsreise nach über dreißig Jahren machte ich 1981 nach Deutschland. Ich hatte von Anfang an keine Probleme: mein Deutsch hatte ich nicht vergessen.“ (S. 246)

Der Herr, der schon Rentner war, hatte in den vierziger Jahren zuerst Europa besucht.  

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Schon bei meinem ersten Besuch in Beijing hatten mich die vielen Busfahrerinnen und Schaffnerinnen beeindruckt. So freute ich mich besonders „Sishifenzhong de ye (Vierzig Minuten durch die Nacht)“ zu lesen. Das besondere an ihrer Buslinie war, dass sie im Kreis um das Stadtzentrum ging – und dafür 40 min brauchte. (S.103) Ungewöhnlich für die damalige Zeit waren auch die Gespräche „Doktor Yang – Urologe und Eheberater“ (S.29) und „Die schwere Last der Leere – Ein behindertes Kind (S.45)“.

 

Das zweite Buch, das nicht so berühmt wurde aber dafür auch Bilder enthält, habe ich erst später in einer Bibliothek gesehn. Auch hier kommt eine „Busschaffnerin“ (S. 167) aus der Hauptstadt vor, was zu der Vermutung führt, dass dieses Buch von den früheren Texten inspiriert wurde. Interessant auch: „Ein Hundertjähriger“ S.219), eine „Meinungsforscherin“ (S. 226), ein „Seemann“ (S. 276), eine „Stewardeß“ (S. 299), ein „Kreisparteisekretär“(S. 393), ein „Dolmetscher“ (S. 404), eine „Lehrerin für behinderte Kinder“ (S. 483) und: Cui Jian „Rock-Star“ (S. 248).

Da an diesem Band weniger Personen beteiligt waren, wirkt er nicht so bunt und lebendig; dafür werden andere Landesteile besser repräsentiert.

 

Wer heute in diesen Bänden liest, würde manche Personen vielleicht gern selbst noch einmal treffen, was bei den damals schon Hundertjährigen kaum gelingen wird.    

 

Dr. Thomas Kampen

 

 

 

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Letzte Änderung: 01.12.2020
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