Aktuelle Tendenzen der chinesischen Minderheitenpolitik: Zur Reform der zweisprachigen Schulbildung in der Inneren Mongolei. Teil 2: Analyse

Ein Hirte bewacht die mongolische Schrift
Ein Hirte bewacht die Mongolische Schrift. Foto: Ayin. Quelle: https://www.languageonthemove.com/will-education-reform-wipe-out-mongolian-language-and-culture/

Der im Newsletter 105 veröffentlichte Text ist die deutsche Übersetzung eines am 22. Juli 2020 auf WeChat verbreiteten (und dort am 24. August 2020 entfernten) Manifests gegen die Pläne der Kultusbehörden, das Mongolische als Unterrichtssprache in den Minderheitenschulen der Inneren Mongolei abzuwerten und möglicherweise nur noch als einzelnes Fach in sonst chinesischsprachigen Schulen anzubieten. Eigentlich sehen die chinesische Verfassung sowie das Autonomiegesetz für die Nationalitätengebiete (Minzuqu zizhifa 民族區域自治法) die Pflege der verschiedenen nicht-sinitischen Sprachen Chinas vor. Dementsprechend ist – zumindest für die sprecherreicheren und auf eine eigene schriftsprachliche Tradition blickenden Minderheiten – die Möglichkeit, die Schulbildung zum Teil oder ganz in der eigenen Muttersprache zu absolvieren, lange Zeit ein wichtiger, wenn auch unvollkommen ungesetzter und immer wieder gefährdeter Aspekt der chinesischen Minderheitenpolitik gewesen. Das mongolischsprachige Bildungswesen Chinas bietet bislang vielen Mongolen die Möglichkeit, die Pflichtschulausbildung in den Grund- und Mittelschulen und sogar einige universitäre Studiengänge auf mongolisch zu absolvieren. Diese Studiengänge an den innermongolischen Universitäten ziehen sogar Studierende aus anderen Provinzen Chinas mit mongolischer Minderheit und aus der Republik Mongolei an (Golik 2019, 56).

„Zweisprachige Bildung“ in chinesischen Minderheitengebieten

Das System der Minderheitenbildung in China ist seit jeher vielfältig und voller Widersprüche. Vage politische Vorgaben der Zentralregierung lassen den lokalen Behörden und sogar den einzelnen Schulen einen weiten Interpretations- und Handlungsspielraum. Trotz erheblicher Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen und Minderheiten ist jedoch seit den 1990ern eine deutliche Tendenz der Zunahme chinesischsprachiger und Abnahme regionalsprachlicher Anteile festzustellen. Begründet wurde dies zunächst oft mit der schlechteren Qualität des Bildungswesens in Minderheitensprachen; später jedoch auch zunehmend mit dem Erfordernis nationalen Zusammenhalts. Proponenten einer „Minderheitenpolitik zweiter Generation“ (di-er dai minzu zhengce 第二代民族政策) halten die bestehenden Regelungen, die den Minderheiten die Pflege ihrer eigenen Sprachen und Kulturen zugestehen, für ein unzeitgemäßes sowjetisches Erbe. Sie führen den Zerfall der Sowjetunion zu einem Großteil auf diese Politik regionaler Autonomie zurück und glauben, dass entsprechende Regelungen in China dem Separatismus förderlich und der nationalen Stabilität abträglich seien; zudem stünden differenzierte Maßnahmen dem Fortschritt und der gleichmäßigen Entwicklung des Landes im Wege. Stattdessen fordern sie eine „Schmelztiegel-“Politik nach dem vermeintlichen Vorbild der USA, die den Minderheiten nur persönliche Gleichheitsrechte zugesteht, aber keinerlei kulturelle Autonomie. Die Zentralisierungstendenzen in der Minderheitenpolitik haben sich seit dem Amtsantritt von Xi Jinping als Parteisekretär und Staatspräsident beträchtlich verstärkt und finden nun Unterstützung von höchster politischer Stelle.

Am frühesten und umfassendsten wurde der Gebrauch lokaler Sprachen im Bildungswesen in Xinjiang zurückgefahren. Seit 2002 führen die Universitäten in Xinjiang, die vordem fast alle Studiengänge auch auf Uigurisch angeboten hatten, den gesamten Unterricht mit Ausnahme von Chaghatai-Kursen (der klassischen Schriftsprache der Turkvölker in Zentralasien) mit chinesischen Lehrmaterialen und in chinesischer Sprache durch. Im Jahre 2004 gaben das Parteikomitee und die Regierung des stark uigurisch geprägten Bezirks Khotan im Süden Xinjiangs das politische Ziel bekannt, dass der Gebrauch der Minderheitensprachen wie des Uigurischen und des Kasachischen im Schulwesen größtenteils auf das Studium dieser Sprachen selbst zu begrenzen sei. Ebenso wurden ab 2004 in ganz Xinjiang die getrennten Schulsysteme für Han und Minderheiten zusammengelegt, ein Prozess, der zumindest in städtischen Regionen 2008 abgeschlossen war. Unterricht in lokalen Sprachen fand in solchen „gemeinsamen Nationalitäten-Han-Schulen“ (min-han hexiao 民漢合校) nur noch vereinzelt statt, teilweise auch dergestalt, dass Kinder gleichzeitig dasselbe Fach (zum Beispiel Mathematik) auf chinesisch und auf niedrigerem Niveau in der lokalen Sprache belegten. In der Folgezeit erhielt das Chinesische „fast vollständig Vorzug gegenüber den Muttersprachen der Minderheiten in Xinjiang“ (Schluessel 2007, 258).

Ähnliche Prozesse finden ebenfalls in den tibetischsprachigen Gebieten statt. In Umsetzung des nationalen Bildungs-Entwicklungsplans fördern auch die Provinzen mit tibetischsprachigen Bevölkerungen in ihren für 2010-2020 geltenden Bildungsplänen „zweisprachige Bildung“. Der Plan der Autonomen Region Tibet für 2010-2020 sieht vor, dass „die Schulen … die tibetische Umgangs- und Schriftsprache und die gemeinsame Umgangs- und Schriftsprache des Landes zur grundlegenden Unterrichtssprache und -Schrift machen, Mandarin-Unterricht verbreiten und Fremdsprachenunterricht wertschätzen sollten“. Der entsprechende Plan der Provinz Qinghai geht noch weiter und sieht ausdrücklich eine zweisprachige Erziehung vor, „die primär auf der gemeinsamen Schrift- und Umgangssprache des Landes und sekundär auf den Schrift- und Umgangssprachen der jeweiligen Nationalitäten beruht.“ Dieser Passus führte zu beträchtlichen Protesten, die jedoch die Gesamtausrichtung der Politik im tibetischen Sprachgebiet nicht zu ändern vermochten: Wiewohl die Umsetzung der Politik „zweisprachiger Erziehung“ von Ort zu Ort beträchtlich variiert, bevorzugt sie in der Praxis doch fast immer die chinesische Sprache.

Obwohl nur weniger als 20% der Bevölkerung der Inneren Mongolei ethnische Mongolen sind, war die Lage des Mongolischen im innermongolischen Bildungswesen bislang im Vergleich zur Situation in Xinjiang und Tibet noch relativ stabil. Zum einen täuscht der relativ niedrige Anteil an der Gesamtbevölkerung darüber hinweg, dass viele Mongolen in ländlichen Gemeinden leben, in denen sie die absolute Mehrheit stellen, und in denen das Mongolische noch die Verkehrssprache ist. Zum anderen kennt die innere Mongolei kaum separatistische Bewegungen, während die vielfältigen Beziehungen zur benachbarten Republik Mongolei es den Mongolen in China gleichzeitig erleichtern, ihre Sprache zu bewahren. Mongolische Kader sind in der Kommunistischen Partei Chinas vergleichsweise gut vertreten und gelten als relativ gewandt darin, die Sprache der Partei zu sprechen, um ihre eigenen Interessen zu wahren, wie auch das vorliegende Manifest zeigt. Da die innermongolische Gesellschaft aus Pekinger Sicht recht gut „lesbar“ ist, gilt sie als wenig problematisch und steht daher weniger im direkten Fokus nationalstaatlicher Assimilierungs¬versuche (Atwood 2020).

In der Inneren Mongolei hatte das Mongolische daher bislang noch vielfach den Status einer vollwertiger Unterrichtssprache bewahren können. Doch auch dort steht die muttersprachliche Bildung seit den 1990ern unter Druck. Vorschläge, das Mongolische als Bildungssprache abzuschaffen, wurden im Jahr 1993 vorgebracht, aber nicht umgesetzt, weil sie auf breite Ablehnung der mongolischen Eliten und mit ihnen sympathisierender Han-Kader trafen (Atwood 2020). Der Bildungsplan der Inneren Mongolei für 2010-2020 betont ebenso wie seine Entsprechungen in anderen Provinzen die Förderung „zweisprachiger Bildung“, und sieht zwei Modelle für das mongolische Erziehungswesen vor:

„Die Arbeit an zweisprachiger Bildung verstärken. Allseits die Arbeit an der zweisprachigen Bildung verstärken; aktiv den zweisprachigen Unterricht mit den Umgangs- und Schriftsprachen der nationalen Minderheiten und der chinesischen Umgangs- und Schriftsprache als Unterrichtssprache fördern; das Recht der nationalen Minderheiten respektieren und garantieren, Bildung in ihren eigenen Umgangs- und Schriftsprachen zu erhalten; mit voller Kraft die gemeinsame Umgangs- und Schriftsprache des Landes verbreiten. Die Grund- und Mittelschulen der mongolischen Minderheit müssen entweder das zweisprachige Unterrichtsmodell ausführen, bei dem das Mongolische überwiegt und Chinesisch zusätzlich unterrichtet wird, oder dasjenige, bei dem das Chinesische überwiegt und die mongolische Umgangs- und Schriftsprache zusätzlich unterrichtet wird, damit die Absolventen Zweisprachigkeit im Mongolischen und Chinesischen erlangen.“

Die Zahl von Minderheitenschulen, die nach dem ersten Modell arbeiten (Mongolisch als Hauptsprache, Chinesisch als Zusatzsprache), geht seit Jahren zurück, vor allem, weil im Zuge der verstärkten Urbanisierung viele ländliche Schulen geschlossen werden. Doch auch der direkte politische Druck auf die mongolische Sprache hat zugenommen. Das Bildungsministerium in Peking verlangt seit 2017 chinaweit einheitliche chinesischsprachige Lehrbücher in den drei politisch sensiblen Fächern Sprache und Literatur, Politik, sowie Geschichte. Diese Maßnahme wurde noch im selben Jahr in Xinjiang und seit 2018 in Tibet umgesetzt. In Xinjiang betraf diese Umstellung im besonderen Maße die Schulen der dortigen mongolischen (oiratischen) Minderheit, in denen die mongolische Sprache noch Unterrichtssprache war, da in den turksprachigen Gebieten der entsprechende Unterricht schon seit den 2000ern auf chinesisch durchgeführt wird. In der Inneren Mongolei wurde 2018 die Umstellung auf chinesischsprachigen Unterricht zunächst abgewendet, weil mongolische Parteikader und Intellektuelle wieder einmal erheblichen Widerstand dagegen mobilisieren konnten.

Bildungsreformen und Sprachproteste in der Inneren Mongolei

Seit 2019 hat jedoch, wie im folgenden Manifest beschrieben, das Bildungsministerium in Peking den Druck auf die Innere Mongolei erhöht, die Vorgaben bezüglich der einheitlichen Lehrbücher umzusetzen. Zusätzlich zu den internen politischen Faktoren, die eine immer stärkere Homogenisierung innerhalb Chinas gemäß den Ideen der „Minderheitenpolitik zweiter Generation“ bedingen, spekulieren die renommierten Anthropologen Uradyn Bulag und Caroline Humphrey auch über einen externen Faktor. Bislang waren die Innermongolen von den Mongolen in der Republik Mongolei durch eine trotz dialektaler Differenzen immer noch gemeinsame Umgangssprache vereint, aber in ihrer Schriftsprache getrennt. Nun hat aber die mongolische Regierung im März 2020 ihre Absicht bekräftigt, die auch in der Inneren Mongolei benutzte traditionelle Schrift und Rechtschreibung bis 2025 wieder einzuführen. Die Schwächung des Mongolischen im innermongolischen Schulwesen wäre damit möglicherweise ein Schritt, um panmongolischen Tendenzen vorzubeugen, die möglicherweise durch die gemeinsame Schrift begünstigt werden könnten (Bulag & Humphrey 2020). Umgekehrt haben die innermongolischen Reformen ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit in der Republik Mongolei erregt, wo sogar der ehemalige Staatspräsident Tsakhiagiin Elbegdorj scharfe Kritik an der chinesischen Politik übte.

Lokale Behörden begannen im Sommer 2020 damit, Vorbereitungen für die Umsetzung der Politik landeseinheitlicher Lehrbücher und möglicherweise für eine weitergehende Abschaffung mongolischsprachigen Unterrichts zu treffen. Dies betraf vor allem die Jirim-Liga (1999 in Stadt Tongliao umbenannt), eine im Osten der Inneren Mongolei gelegenen Region, die an die Provinzen Liaoning und Jilin angrenzt. Die Jirim-Liga ist stark mongolisch geprägt und hat einen weit überdurchschnittlichen mongolischen Bevölkerungsanteil von etwa 46%. Sie beheimatet demnach auch die größte mongolischsprachige Gemeinschaft Chinas, deren lokaler Khorchin-Dialekt auch die sprecherreichste Variante der mongolischen Sprache in China ist. Dieser Dialekt ist vom bislang durch die Schulbildung vermittelten Schriftmongolischen vergleichsweise weit entfernt.

Schon diese Vorbereitungen der Kultusbehörden lösten erheblichen Widerstand innerhalb der mongolischsprachigen Gemeinde aus, obgleich es noch keine offizielle Ankündigung gab und Kenntnis über die Regierungspläne noch sehr vage waren. Widerstand kam aus allen Regionen – neben der Jirim-Liga ist auch die Region Shiliin Gol hervorzuheben, deren Dialekt als innermongolischer Standard gilt – und aus allen gesellschaftlichen Schichten. Professor Jakhadai Chimeddorji, ein renommierter Historiker mit einem Doktortitel aus Bonn, vertrat in einem neunminütigen Video eine ähnliche Position, wie sie der vorliegende Text vertritt. Daraufhin wurde er am 7. August seines Amtes als Direktor des Zentrums für Mongolistik der Universität der Inneren Mongolei enthoben. Bürger haben tausende Petitionen gegen die neue Politik unterzeichnet und teilweise auch auf offener Straße und in den Schulen protestiert. Viele Eltern weigerten sich, ihre Kinder in die Schulen zu schicken, falls die neue Politik durchgesetzt werde. Solche Proteste können zu erheblichen juristischen und wirtschaftlichen Konsequenzen führen. Die Teilnahme an öffentlichem Protest und das Verbreiten von „sensiblen Informationen“ (mingan xinxi 敏感信息) im Internet wird gemäß den chinesischen Gesetzen als „Provozieren von Streit und Unruhestiftung“ (xunxin zishi 尋釁滋事) oder „Verbreiten von Gerüchten“ (sanbu yaoyan 散布謠言) gewertet und zumeist mit mehrtägiger Administrativhaft bestraft. Die Polizei veröffentlichte Bildaufnahmen zahlreicher Demonstranten im Internet und lobte Belohnungen für Hinweise zu ihrer Identität aus. Weiterhin drohen diverse öffentliche Bekanntmachungen lokaler Behörden den Eltern, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken, eine ganzen Reihe von Sanktionen an: Aussetzung von Arbeit und Lohn, Streichung staatlicher Begünstigungen und des Zugangs zu Krediten, Benutzungsverbot für Zug und Bahn, Beschränkungen für Hotelbuchungen, nebst weiteren Beschränkungen.

Angesichts der massiven Proteste veröffentlichte das Bildungsdepartement der Autonomen Region Innere Mongolei am 28. August eine Pressemeldung, der gemäß man nur die Umsetzung der Politik landesweit einheitlicher Lehrbücher in den drei Fächern Sprache und Literatur, Geschichte sowie Politik bezwecke. Nach der Durchführung dieses Plans würden keine weiteren Änderungen vorgenommen. Die Pressemeldung fasste dieses Versprechen in einem später als „fünf Nicht-Änderungen“ (wu ge bu bian 五箇不變) bekannt gewordenen Katalog zusammen:

  1. Es werde keine Änderungen im Curriculum anderer Fächer geben;
  2. Es werde darüber hinaus keine Änderung der Lehrbücher geben;
  3. Es werde keine Änderungen in der Unterrichtssprache und -Schrift geben;
  4. Die Stundenanzahl in den Fächern „Mongolisch“ und „Koreanisch“ bleibe unverändert (zusätzlich zur der mongolischen hat auch die koreanische Minderheit eigene Schulen in der Autonomen Region Innere Mongolei);
  5. Es werde keine Änderung des Modells minderheitensprachlicher Bildung geben.

Diese Versicherung vermochte die Gemüter aber nicht zu beruhigen. Zwar würde, wenn es tatsächlich dabei bliebe, die Bildungsreform weniger drastisch ausfallen als zunächst befürchtet. Die Verlautbarung bedeutet – zumindest auf den ersten Blick – einen Kompromiss zwischen dem alten (mongolische Bildung mit Zusatzunterricht für Chinesisch) und dem neuen Modell (chinesische Bildung mit Zusatzunterricht für Mongolisch). Das Chinesische wird aufgewertet, aber weitere Fächer werden weiterhin auf mongolisch unterrichtet.

Die Erklärung als solche bestätigt aber gleichzeitig auch, wie sehr die mongolische Sprache unter Druck steht. Zum einen werden gerade die sprachintensiven Fächer sinisiert, die für die Erhaltung schriftsprachlicher Kompetenz besonders wichtig sind. Zum anderen deuten auch die Inhalte der Reform auf eine erhebliche Herabstufung des Mongolischen hin. Das Fach „Sprache und Literatur“ ohne Zusatz bezieht sich nicht mehr wie ehedem auf die Muttersprache der Schüler, sondern auf das Chinesische. Trotz der Versicherung, es werde keine Änderungen in den Lehrwerken geben, weisen die Neudrucke der Lehrbücher für Sprache und Literatur vom Juli 2020 zahlreiche Änderungen im Vergleich zu den Vorgängern auf, die chinesische Inhalte gegenüber mongolischer Literatur und Tradition in den Vordergrund rücken. So wurde zum Beispiel die Geschichte von Dschingis Khans Aufstieg auf den Burchan Chaldun gestrichen; ebenso das Gedicht „meine Heimat“ (minu nutuγ) von D. Natsagdorj gestrichen und durch eine Übersetzung von Mao Zedongs „dem Volke dienen“ (Arad tümen-dü üyileciley-e; original wei renmin fuwu 爲人民服務) ersetzt.

Seit der Erklärung vom 28. August veröffentlichen innermongolische Medien fortwährend Artikel, die den Wert des Chinesischen als Nationalsprache betonen. Baγatur, ein aus der Provinz Liaoning stammender ethnisch mongolischer Politiker, der in Peking mehrere hohe Ämter innehat, betonte, es sei die gemeinsame Verantwortung aller Nationalitäten, die Nationalsprache gut anwenden zu lernen. Der stellvertretende Parteisekretär der Inneren Mongolei, Altansang, meinte, dass zu diesem Zwecke bilinguale Kindergärten und gemischte Schulen gefördert werden sollen. Die Innermongolische Tageszeitung zitierte Generalsekretär Xi Jinping mit der Aussage, es müssten gemischte Schulen und gemischte Klassen mit dem Ziel gemeinsamen Lernens gefördert werden. Ähnliche Maßnahmen haben im Xinjiang der 2000er, wie oben beschrieben, nicht zu einem gleichberechtigten Nebeneinander der Sprachen, sondern effektiv zu einer Marginalisierung der Regionalsprachen im Bildungswesen geführt. Auch im Falle der Inneren Mongolei scheint die geforderte „Zweisprachigkeit“ wesentlich mehr das Chinesische als die Muttersprache der Mongolen zu betonen. Die Grundhaltung der Regierung spiegelt sich in einem Meinungsartikel vom 22. September wieder, den die China Daily, die Global Times und die Volkszeitung als Reaktion auf die mongolischen Sprachproteste unter dem Titel „Eine Sprache, um alle ethnischen Gruppen zu vereinen“ veröffentlichten. Obwohl offiziell der „5 Nicht-Änderungen-“Kompromiss gilt, deutet daher alles darauf hin, dass es in Zukunft nicht dabei bleiben und die mongolische Sprache zugunsten des Chinesischen weiter an den Rand gedrängt werden wird.

Das Manifest des „Lesezirkels Roter Ross“

Das ständig wiederkehrende offizielle Argument, die Reformen seien notwendig, um die sichere Beherrschung des Chinesischen durch die mongolische Minderheitsbevölkerung sicherzustellen, vermag nicht zu überzeugen. So gut wie alle nach 1980 geborenen Sprecher des Mongolischen in China sind auch der chinesischen Sprache mächtig. Es herrscht eine weitgehende Zweisprachigkeit, die zwar vielerorts über mehrere Generationen hinweg stabil blieb, aber doch erheblichem Druck durch das Chinesische ausgesetzt ist und das Mongolische zu einer „moderat bedrohten“ Sprache macht. Im langjährigen Durchschnitt zwischen 1922 und 2007 haben mindestens 16,5% der Kinder jeder Generation zweisprachiger Eltern die mongolische Sprache verloren. Die teils ungeplante, teils auch vom Staat betriebene Urbanisierung und andere sozioökonomische Faktoren haben in den letzten Jahren den Druck erhöht und lassen eine Steigerung dieser Verlustrate wahrscheinlich erscheinen. Dies ist umso mehr der Fall, wenn die Unterstützung durch das Bildungssystem wegfällt. Weil die jüngere Bevölkerung schon vollständig zweisprachig ist, besteht sogar die Gefahr einer plötzlichen Verschiebung zugunsten der dominanten Sprache (zur innermongolischen Sprachverschiebungen siehe Puthuval 2017). Auch schon der Wegfall nur eines Teils der Schulfächer könnte erhebliche Auswirkungen auf den sozialen Anwendungsbereich und auf das Prestige der Sprache haben. Damit scheint es nicht unwahrscheinlich, dass die Innere Mongolei die Erfahrungen der Burjaten in der Sowjetunion wiederholt. In der Burjatischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik war die burjatische Sprache in den 1960ern und -70ern sukzessive als Unterrichtssprache abgeschafft und zum Schluss nur noch vereinzelt als Zusatzfach angeboten. Das Burjatische schrumpfte zu einer bloß häuslichen Sprache vor allem im ländlichen Bereich (Chakars 2014).

In diesem Kontext ist das folgende anonyme Manifest, das auf dem Wechat-Konto des „Lesezirkels Rotes Ross“ veröffentlich wurde, als eines der bedeutendsten Dokumente der Reaktion der mongolischen Gemeinschaft auf die – zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung noch sehr vage – angekündigte Bidungsreform zu verstehen. Mit dem 2015 gegründeten Lesezirkel, der seinen Sitz in der innermonglischen Hauptstadt Höhhot hat und dessen Name sich auf die tibetisch-mongolische Epentradition bezieht, sind mehrere namhafte Literaten und Künstler der Inneren Mongolei assoziiert. Der ganze Text ist mit großem Pathos geschrieben und weiß geschickt die Partei- und Vaterlandstreue seiner Unterzeichner zu betonen. Diese Art der Argumentation macht dieses Manifest über seine Bedeutung für das Verständnis der gegenwärtigen ethnischen Beziehungen hinaus auch zu einem interessanten Beispiel dafür, wie in China Opposition gegenüber bestimmten politischen Maßnahmen artikuliert wird. Obwohl schließlich doch eine Teilumstellung der Unterrichtssprache auf Chinesisch verkündet wurde, ist es nicht unwahrscheinlich, dass der breite Widerstand im Juli und im August die Behörden von noch weitergehenden Änderungen abgehalten und dass das Manifest einen Beitrag dazu geleistet hat.

Um für den Erhalt des Mongolischen als Bildungssprache in der Inneren Mongolei zu werben, bemüht das Manifest vor allem zwei Argumentationsstränge: Es kämpft zum einen gegen das hartnäckige und weit verbreitete Stereotyp an, Mongolen seien – wie Mitglieder anderer nationalen Minderheiten auch – rückständig und kulturell unterlegen, und betont weiterhin den großen Erfolg von Mongolen auch auf den höchsten akademischen Ebenen. Gleichzeitig hebt der Text die Rolle der Mongolen als einer relativ unproblematischen „Musterminderheit“ hervor, gerade auch im Vergleich zu den als aufmüpfig geltenden Uiguren und Tibetern.

Der Text besteht aus vier Teilen. Der erste Teil des Manifests erklärt das bisherige System der mongolischsprachigen Bildung und führt auf, welche Vorschläge es seit 2019 gab, die Unterichtssprache auf Chinesisch umzustellen. Dabei betont der Text mit zahlreichen Beispielen, dass das derzeitige mongolischsprachige Bildungssystem qualitativ nicht unterlegen sei und daher keiner Reform bedürfe. Tatsächlich lässt sich dieser Standpunkt des Artikels zum Beispiel durch die vergleichsweise hohe Alphabetisierungsrate unter Mongolen empirisch belegen. Der hohe Stellenwert der Bildung unter Innermongolen lässt sich unter anderem damit erklären, dass sich Bildung zu einem der Vehikel der eigenen ethnischen Identität entwickelt hat: Wie Christopher Atwood schreibt, haben die öffentlichen Schulen für viele Mongolen einen ähnlich hohen kulturellen Stellenwert wie Schreine für Uiguren und Klöster für Tibeter.

Der zweite Teil des Manifests setzt sich mit den Argumenten für eine solche Reform auseinander. Die Reform versuche, Scheinprobleme zu lösen, die es gar nicht gebe: Unterricht auf mongolisch schade weder der nationalen Einheit noch den Zukunftsaussichten der Schüler, die ihn erhalten. Sogar das Gegenteil sei der Fall: Die Reform bringe Unruhe in die sonst stabile Innere Mongolei, und die Beherrschung des Mongolischen eröffne den Schülern im Vergleich zu ihren rein auf chinesisch Ausgebildeten Altersgenossen zusätzliche Perspektiven. Im folgenden dritten Teil listet das Manifest fünf Argumente für die Beibehaltung des bisherigen Systems auf. Das mongolische Bildungswesen habe sich in der Praxis bewiesen und entspreche dem Stand der Wissenschaft. Im übrigen sei keine Minderheit minderwertig, und jeder Minderheit stehe es zu, ihre Kultur zu entfalten. Dabei rekurriert der Text ausdrücklich auf die Verfassung der Volksrepublik China. Der Hinweis darauf, dass die mongolische Sprache von der UNESCO als gefährdet eingestuft werde, trifft zwar nicht ganz zu. Die UNESCO-Liste gefährdeter Sprachen (letzter Stand: 2010) führt das Mongolische als vorerst sicher auf, erkennt aber durchaus Assimilierungstendenzen durch das Chinesische und verknüpft das Überleben des Mongolischen ausdrücklich mit dem Bestehen eines mongolischsprachigen Bildungssystems. Der derzeitige Stand der Forschung sieht die mongolische Sprache in China jedoch auch ohne Bildungsreformen als „moderat gefährdet“ (Puthuval 2017).

Im vierten und letzten Teil entwickelt das Manifest einen Kompromissvorschlag, wie das mongolische Bildungssystem erhalten werden könnte, ohne die Vorgaben aus Peking zu verletzten. Da die Politik einheitlicher Lehrbücher auf die Einhaltung inhaltlicher Qualitätsstandards abziele, wäre es kein Verstoß gegen diese, falls die Lehrbücher ins Mongolische übersetzt würden. Im Gegenteil könnte muttersprachlicher Unterricht in den Fächern mit großer politischer Bedeutung die Schüler sogar noch besser erreichen. Der Schluss des Textes weicht schließlich vom linientreuen Duktus ab. Es scheint deutlich eine über die Jahre angestaute Verzweiflung und der fast schon wie eine versteckte Drohung klingende Hinweis durch, dass die angekündigte Reform die „Gefühle der nationalen Minderheiten auf breiter Front schwer“ verletzen und der Sache der Partei schaden könnte.

Egas Moniz Bandeira

Quellen und Hinweise

Ich danke Prof. Dr. Christopher Atwood (der mich zur Übersetzung des vorliegenden Textes aus dem Chinesischen angeregt hat), Prof. Dr. Ines Stolpe, Dr. Jargal Badagarov, Dr. Gegentuul Baioud, Dr. Enkh-Ochir Khuvisgalt, Dr. Thomas Kampen, Dr. Nils Pelzer, Matthew Dundon, Mariana Münning, Stanley Ong Gieshen Setiawan, Till Linsenmair für die vielen Hinweise, Kommentare und Verbesserungsvorschläge.

Der chinesischsprachige Originaltext war zunächst auf der Wechat-Seite des „Lesezirkels ‚Rotes Roß‘“ gepostet worden, ist aber am 24.8.2020 gelöscht worden. Eine archivierte Version des Originals findet sich im Digital Archive of China Studies (DACHS) der Universität Heidelberg: https://projects.zo.uni-heidelberg.de/replay/lp/20200801162945.html

Einer englische Übersetzung des Texts ist weiterhin auf academia.edu zu finden.

In Teil 1 im vergangenen Newsletter ist Egas Moniz Bandeiras Übersetzung des Manifests zu lesen. Sein kompletter Artikel wird in den Mongolischen Notizen der Deutsch-Mongolischen Gesellschaft e.V. (DeMoGe) abgedruckt und ist bereits hier zu lesen.

Die Erklärung vom 28. August 2020, die den Umfang der Reform offiziell festgelegt und das Prinzip der “5 Nicht-Änderungen” festgelegt hat, findet sich als “Qiuji xueqi qi woqu minzu yuyan shouke xuexiao xiaoxue yinianji he chuzhong yinianji shiyong guojia tongbian yuwen jiaocai” 秋季學期起我區民族語言授課學校小學一年級和初中一年級使用國家通便語文敎材 (Ab dem Herbstsemester werden in unserer Region in den Schulen mit Unterricht in Nationalitätensprachen in der ersten Klasse der Grundschule und der erste Klasse der Mittelschule landesweit einheitlich edierte Lehrmaterialien für Sprache und Literatur benutzt) in Xilinguole ribao 錫林郭勒日報, 28.08.2020, https://www.thepaper.cn/newsDetail_forward_8916492.

Gute englischsprachige Zusammenfassungen der derzeitigen Lage haben der prominente Mongolist Christopher Atwood sowie die Linguistin Gegentuul Baioud verfaßt, die selbst das mongolischsprachige Bildungssystem durchlaufen hat:

Für weiterführende Informationen zum bisherigen System der Minderheitenbildung und des Spracherhalts in der Inneren Mongolei siehe:

  • Katarzyna Golik, “An outline of the situation of education of the Mongol minority in the People's Republic of China after 1978,” Sprawy Międzynarodowe LXXII, no. 3 (2019): 51–65 (https://doi.org/10.35757/SM.2019.72.3.06).
  • Katarzyna Golik, “Facing the Decline of Minority Languages: The New Patterns of Education of Mongols and Manchus,” Rocznik Orientalistyczny LXVII, no. 1 (2014): 92–106 (http://yadda.icm.edu.pl/yadda/element/bwmeta1.element.pan-ro-yid-2014-iid-1-art-000000000008/c/820ROrient201-142008Golik.pdf)
  • Sarala Puthuval, “Stages of language shift in twentieth-century Inner Mongolia, China”, Proceedings of the Linguistic Society of America 2, 28 (2017): 1–14. Dieser Artikel beruht auf der unveröffentlichten Dissertation “Language maintenance and shift across generations in Inner Mongolia” (University of Washington, 2017), die dem Autor vorliegt.

Zur Geschichte des sowjetischen Burjatiens, die in manchem an die jetzige Situation erinnert siehe:

  • Chakars, Melissa (2014). The Socialist Way of Life in Siberia: Transformation in Buryatia. Budapest: Central European Press.

Zu früheren Reformen der Unterrichssprache in Xinjiang siehe

  • Schluessel, Eric (2007), “’Bilingual’ Education and Discontent in Xinjiang”, Central Asian Survey 26 (2), 251–277.

 

 

 

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Letzte Änderung: 27.05.2021
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