Interview mit Anne Labitzky - Teil 1

 

NL 105 Labitzky

Wie kamen Sie zur Sinologie?

Eigentlich mehr durch Zufall. Ich hatte im Interview 2009 ja schon erzählt, dass ich in der Schule im sprachlichen Zweig war. Dann wollte ich gerne Dolmetscherin werden und dann hat das Arbeitsamt gesagt: „Lassen Sie bloß die Finger davon!“ Der Vater einer Freundin meiner Mutter hatte Sinologie und Japanologie an der Universität in Göttingen studiert. Dort gab es schon sehr lange Sinologie. Und der hat mich dann darauf gebracht.

Wie war das damals, Sinologie zu studieren? War das sehr ungewöhnlich? Wie reagierte Ihr Umfeld auf die Studienwahl?

Die fanden das toll - mein Umfeld, meine Mutter, die Kollegen meiner Mutter fanden das alle ganz spannend. Ich habe das erst entschieden, nachdem ich das Abitur hatte, daher gab es von den Kameraden aus der Schule eigentlich keine Reaktion.

Was viel spannender hier war, war wie es hier [an der Universität Heidelberg] organisiert war. Man fing immer im Herbst an. In dem einen Winter fing man mit Wenyanwen 文言文(Klassisch) an und im nächsten Winter dann mit Putonghua 普通话. Das heißt, ich saß mit Leuten zusammen, die auch wie ich im ersten [Semester] waren, aber auch mit Leuten aus dem dritten Semester, die dann im dritten Semester Putonghua waren. Als ich dann einen Winter weiter war, also dann in meinem dritten [Semester] war, kam ich mit Anfängern in Putonghua zusammen.

Als ich in meinem Studienaufenthalt in China war, hat die Universität das 77 oder 78 geändert und hat Sinologie II, also modernes Chinesisch, als Nebenfach eingeführt.

Ich hatte [ursprünglich] Sinologie als Hauptfach und Romanistik und Geschichte als Nebenfächer. Als ich aus China zurückkam, habe ich dann mein Nebenfach Romanistik abgegeben und Sinologie II genommen. Dafür haben sie mir den Aufenthalt in Peking anerkannt.

Wie viele waren Sie damals in einem Jahrgang?

Im ersten Kurs waren wir 40. So bis Weihnachten war die Hälfte abgesprungen und an Ostern war nur noch ungefähr ein Drittel übrig. Die haben es dann auch weiter durchgezogen. In den höheren Semestern ist immer wieder der eine oder der andere abgesprungen, aber die erste – ja wie soll man’s sagen – Ernüchterung war nach Ostern durch. (lacht)

Sie sind zum ersten Mal 74 mit der GDCF (Gesellschaft für Deutsch-Chinesische Freundschaft) nach China. Mit welchen Erwartungen sind Sie da hin?

Mit gar keinen. Ich konnte mich nicht einmal verständigen, ich kam ja aus dem Wenyanwen. Ich war einfach neugierig und wollte es mir angucken. Damals waren die Beziehungen gerade aufgenommen worden. Aber es gab wenig Möglichkeiten, nach China zu kommen, und dann habe ich einfach die Gelegenheit beim Schopf gepackt. Wir sind mit PIA geflogen, sowohl hin als auch zurück.

Sie sind auch einmal mit der Transsibirischen Eisenbahn gefahren, nicht wahr?

Während meines Studienaufenthalts bin ich zwei Mal Transsib gefahren. Nach dem ersten Wintersemester und nach dem Sommersemester. Eigentlich sollte man am Stück in China sein, die [der DAAD] haben das nicht sehr gerne gesehen, aber ich hatte irgendwie Heimweh. (lacht)

Wie waren die Fahrten mit der Transsib?

Das war toll! Das Ticket bis nach Moskau konnte man damals für 160 kuai kaufen – wir haben 130 kuai monatlich von der chinesischen Regierung bekommen. Bis Moskau war reserviert. Und dann hieß es, wir bekämen den Anschlusszug - den haben wir aber nicht bekommen. Es fuhr immer ein Zug abends. Da musste man aber 3, 4 Tage warten, bis man ein Ticket bekam. Da konnte man aber buchen bis nach Hause so zu sagen. Ich habe damals in der Nähe von Hannover gewohnt und hab dann bis nach Hannover gebucht. Da war ich mit meinem Dayi 大衣 unterwegs (lacht) – ich hab‘ alles mitgenommen, ich wollte alles mal richtig in der Maschine waschen. Damals gab es nämlich keine Waschmaschinen in den Studentenwohnheimen.

Beim ersten Mal war ich mit einem Mexikaner und einer Italienerin zusammen unterwegs. Der Mexikaner war ein Weltenbummler und sprach Russisch, das war ganz geschickt. Wir haben Leute von Agence France-Presse getroffen, die uns untergebracht haben, sodass wir nicht in Moskau in ein Hotel gehen mussten oder so.

Beim zweiten Mal war ich mit einer Gruppe von Franzosen unterwegs. Während wir dann warteten, dass wir den Anschlusszug nehmen konnten, sind wir in der Wohnung der Kultur-Attaché untergekommen.

Ich hab‘ jedes Mal den chinesischen Zug genommen. Der war einen Tag kürzer. Der russische Zug fuhr nämlich über die Mandschurei und dann über Sibirien; der chinesische Zug fuhr über die Mongolei und dann Sibirien. Der russische Zug hatte den Ruf, dreckig zu sein und das wollte ich mir nicht antun – ob das stimmt, weiß ich natürlich nicht, ich bin ja nie damit gefahren.

Konnte bei der zweiten Reise dann auch jemand Russisch?

Unsere gesamte Gruppe konnte Chinesisch, wir waren ja alle Sinologen. Wir konnten alle Französisch, wir sprachen alle Englisch – Anna und ich konnten Spanisch, und wir hatten eine dabei, die konnte Japanisch, Anna konnte auch noch Italienisch. Keine von uns sprach Russisch.

Und mit diesen sechs Sprachen sind wir nicht in Moskau zu Rande gekommen. Wir haben dann junge Studenten aus Südamerika getroffen, die dort als Austauschstudenten waren, und die haben für uns gedolmetscht. Aber mit sechs Sprachen, nicht zurecht zu kommen, das war schon ein Erlebnis.

Ihre erste Chinareise unternahmen Sie während des Endes der Kulturrevolution und Ihren Studienaufenthalt begannen Sie kurz nach deren Ende und nach Mao Zedongs 毛泽东 Tod. Wie war das? Was kam damals in den deutschen Medien über China? Mit welchen Erwartungen sind Sie nach China aufgebrochen?

In den Medien kam nicht viel – immer mal so ein bisschen was. Zum Beispiel, dass Mao Zedong gestorben war. [Das Erdbeben von] Tangshan 唐山 war ein großes Thema. Aber was da so in China innen passierte, da kam nicht viel bei uns in den Medien. Jetzt kann man auch nicht von Offenheit sprechen, aber so zwischendrin war es etwas besser. Während ich drüben war oder kurz bevor ich rüber gegangen bin, hatte Deng Xiaoping 邓小平 die Kulturrevolution für beendet erklärt. Aber viele Sachen, die hatten sich noch nicht geändert.

Wir konnten zum Beispiel niemanden privat besuchen – auch unsere Lehrer nicht. Wir hatten einen Lehrer, der ist mit unserer Kalligraphie-Gruppe (wir waren so 10, 15 Leute, die Kalligraphie als Freizeitgestaltung gemacht haben) in einen Teil im Gugong 故宫, der der Öffentlichkeit zugänglich ist, da waren ganz viele Kalligraphien ausgestellt. Unser Lehrer ist dafür ziemlich gerügt worden, dass er das eigenverantwortlich mit uns gemacht hat. Wir hatten alle Monatstickets und waren dann einfach in den Bus gestiegen und dahingefahren.

Als ich dort war, sind die meisten Leute mit der U-Bahn gefahren. Aber klar, während Ihres Aufenthalts gab es die meisten U-Bahn-Linien ja noch gar nicht.

Ja, die erste Linie, die gab es schon, aber die war damals für Ausländer streng gesperrt. Die haben sie uns einmal gezeigt, aber damit fahren durfte man nicht.

Was damals auch ganz neu war, da haben sie uns auch reingeschleppt, war das Mausoleum für Mao Zedong. Da ist die ganze Schule geschlossen ins Mausoleum gefahren. Wir mussten unsere Mäntel und Fotoapparate im Bus lassen. Man durfte im Mausoleum nicht stehen bleiben, sondern musste in Bewegung bleiben. Und nach einer viertel Stunde war es dann wieder vorbei.

Vom Studium her wusste ich von der Kulturrevolution und auch durch die Fahrt, wusste ich, dass es Orte gab, wo man einfach nicht hinfahren durfte. Es war ja auch ziemlich klar, aus welchen Gründen man da nicht hinfahren durfte. Von daher gesehen, wusste ich schon, was mich erwartet.

Außerdem hat uns der DAAD für ein Treffen von 2, 3 Tagen zusammengenommen und da wurden wir dann von Ehemaligen, die gerade zurückgekommen sind, auf den Aufenthalt vorbereitet.

Damals im Interview 2009 haben Sie unter anderem von Bekanntschaften berichtet, die Sie während Ihres Chinaaufenthalts gemacht haben. So haben Sie zum Beispiel Ying Ruocheng 英若诚 auf Tournee begleitet.

Nein, kennengelernt habe ich Ying Ruocheng erst hier in Deutschland auf der Tournee.

Das war die „Chaguan 茶馆“ (Teehaus)-Tournee im Jahr 1980. Da war ich Begleiterin. Uwe Kräuter hat den deutschen Text gelesen. Auf dessen Initiative ging das auch zurück. Ying Ruocheng hat den Liu Mazi 刘麻子 (Pocken-Liu) gespielt, eine Figur, die jede Gelegenheit nutzt, um schnelles Geld zu machen. Ying Ruocheng ist danach stellvertretender Kultusminister geworden. Die Tochter des Verfassers von „Chaguan“, Lao She 老舍, war auch dabei. Wir waren da mit zwei Bussen und einem LKW mit Anhänger für die Requisiten unterwegs. Eine Ärztin fuhr mit. Wir sind fast vier Wochen durch Deutschland getingelt. Was toll war, dass das auf Gegenseitigkeit war. Das heißt, wir haben nicht jeden Abend gespielt. Dadurch gab es für die Chinesen die Möglichkeit, zum Beispiel auch mal ein Stück, ein Musical oder eine Oper hier anzuschauen.

1981 habe ich auch die Pekingoper begleitet, da waren wir 14 Tage in Deutschland und drei Tage in der Schweiz unterwegs.

Begleitung heißt in beiden Fällen, dass ich als Ansprechpartnerin zur Verfügung stand.

Bei der zweiten Tournee bin ich allerdings auch auf die Bühne gegangen.

Als?

Darf man gar nicht sagen. (lacht) Ich habe die Einführung in die Stücke gegeben. Die haben unter anderem Teile aus „Bawang bie ji 霸王別姬 (Der Hegemon verabschiedet sich von der Konkubine)“ aufgeführt. Das spielte am Ende der Qin-Zeit, Anfang der Han-Zeit.

Auf dem Programm standen einzelne Akte aus verschiedenen Pekingopern. Und wenn dann von „Bawang bie ji“ nichts kam, dann trat ich in einem der Kostüme aus dem Stück auf die Bühne, um die Einführung zu geben. (lacht) Ich wurde dann richtig geschminkt, mit so einem kleinen Mund, großen schwarzen Augen und einem Krönchen auf dem Kopf. (lacht)

 

Das Interview führte Giulia Merker am 10. September 2020.

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Letzte Änderung: 04.10.2020
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