Das patriotische Virus

Nach heutigem Stand befiel Covid 19 erstmals etwa Mitte November 2019 einen Menschen in Wuhan. Am 1. Dezember wurde der erste Patient in einem Krankenhaus aufgenommen, der oder die später positiv getestet wurde. Am 31. Dezember wurden 59 Patienten mit Lungeninfektionen aus verschiedenen Krankenhäuser in Wuhan ins Jinyintan-Krankenhaus verlegt. Von diesen waren zu diesem Zeitpunkt 7 Patienten schwer krank, und 41 wurden nach der Entwicklung des Tests am 2. Januar positiv getestet. Laut offiziellen Zahlen war am 10. Januar 2020 der erste Todesfall zu beklagen. Am 22. Januar erreichte die Zahl der Todesopfer 17. Am folgenden Tag riegelte die Regierung Wuhan ab und versetzte das ganze Land in einen Lockdown. Über etwa 2 Monate starben rund 4000 Menschen in China, seither werden nur noch einzelne Todesfälle und geringe Zahlen positiv getesteter Personen gemeldet.

Wäre dies die Geschichte von Covid 19, würden wir sie aus sicherer Entfernung als ferne, für die Betroffenen tragische Episode abhaken. Da sich das Virus aber weltweit rasant ausbreitet und es nun in Europa und den USA zu noch viel höheren Infektions- und Todeszahlen gekommen ist, sind wir gezwungen, uns über die Zahmheit des Virus in China zu wundern.

Am 27. Dezember berichteten Labors Testergebnisse, laut denen sie ein neues, mit dem SARS-Virus eng verwandtes Coronavirus identifiziert hatten. In ganz Ostasien schrillten die Alarmglocken, denn die Gefährlichkeit dieser Krankheit braucht in China, Hong Kong, Taiwan und Korea keine weitere Erläuterung. Man hat den Ausbruch von 2003 nur allzu deutlich in Erinnerung. Taiwan begann ab 31. Dezember Einreisende aus China zu kontrollieren und aktivierte sein Seuchenschutzprogramm. Während viele Bürger in China und die Regierung Taiwans von der Ansteckung von Mensch zu Mensch und damit von einer ernsten Epidemiegefahr ausgingen, vertraten WHO und die chinesische Regierung bis zum 20. Januar die Ansicht, es gäbe keine Hinweise für die Übertragung von Mensch zu Mensch. Während die Ansteckungsgefahr heruntergespielt wurde, verbreitete sich das Virus aus Wuhan über Reisende aus dieser Stadt. Rund 5 Millionen Menschen, die das Jahr über in Wuhan arbeiten, reisten zum chinesischen Neujahrsfest in ihre Heimatorte zu ihren Familien. International Reisende brachten das Virus in viele Länder der Welt.

Um den 20. Januar erreichte das Virus alle Weltregionen, die intensiv globalisiert sind. Merkwürdigerweise verhielt sich das Virus hier deutlich anders, wie allgemein bekannt und unten anhand von fünf Fallbeispielen genauer analysiert (siehe Tabelle).

Da bereits bekannt und diagnostizierbar, wurde es in der Regel mit den ersten schwereren Verläufen erkannt, in Südkorea und Deutschland sogar bevor die ersten Infizierten ernsthafter erkrankten. Danach klaffen die Entwicklungen auseinander. In Korea, das prompt mit großer Disziplin, intensivem Testen und Verfolgen der Infektionswege reagierte, wurde im Gegensatz zu China kein „Sieg verkündet,“ sondern nach wie vor Ansteckungen gemeldet. Mit wenigen weiteren Ausnahmen südostasiatischer Staaten, die ähnlich früh und gründlich reagierten, ist in allen betroffenen Ländern ein mit einem teilweise unbemerkten Vorlauf von 2-3 Wochen ein schrecklicher, exponentieller Anstieg von Todesfällen und Infektionsraten zu beobachten.

Das Interessante ist, dass dieser Vorlauf einer unkontrollierten Verbreitung in allen Fällen deutlich kürzer war als in Wuhan im Besonderen und in China im Allgemeinen. Entscheidend ist hier die Dauer von Beginn der Infektionskette von Patient 1 bis zu effektiven Maßnahmen der Eindämmung. Bis hier vergingen in Wuhan 66 Tage, in Italien und Deutschland 49 Tage, in einem exponentiellen Prozess eine bedeutende Zeitspanne. Ebenso erstaunlich sind die Zahlen zu Todesfällen, die Dauer der Epidemie mit vielen Toten pro Tag. Dies gilt ebenso für die Schätzungen der Gesamtzahl der Infizierten. Wobei anzumerken ist, dass diese teilweise aus den berichteten Todesfällen ermittelt sind, und daher entsprechende Trends wiedergeben.

Wie man es auch dreht und wendet, chinesische Dissidenten, die Covid 19 als „höchst patriotisches Virus“ bezeichnen, haben offensichtlich recht. Es verhält sich in chinesischen Körpern anders als in ausländischen. Besonders patriotisch ist es offensichtlich dabei, weniger Chinesen das Leben zu kosten, und bei Personen, die symptomarme Infektionen durchmachen, auch nicht infektiös zu werden.

Mutationen können die Aggressivität des Virus beeinflussen. Coronaviren gehören zu den vergleichsweise stabilen Viren, aber auch sie mutieren, und zwar fortwährend. Neueste Studien weisen auf deutliche und markante Mutationen hin. Den Unterschied zwischen den epidemologischen Entwicklungen erklärt diese Erkenntnis allerdings nicht. Die Mutationen mögen in einzelnen Infektionsherden durchschlagen, sie können aber nicht zu völlig verschiedenartigen Entwicklungen führen. Schon deshalb nicht, weil die Kerndaten von relativ gut dokumentierten Ländern unter Einbeziehung von Rahmendaten und -entwicklungen durchaus vergleichbar erscheinen, während alle chinesischen Daten unerklärlich bleiben. Erst wenn man einen Stellenfehler unterstellt, kommt man in den Bereich des Möglichen.

Dies bezieht sich wohlgemerkt auf die Zahlen nur für Wuhan. Die weitere Verbreitung innerhalb von China liegt weitgehend im Dunkeln. Anzumerken ist aber, dass die Zahl der Menschen, die aus Wuhan in andere Regionen Chinas reisten, um ein Vielfaches über der Zahl der internationalen Reisenden liegt. Die Folgen können derzeit nur vage extrapoliert und imaginiert werden.

Wir waren nicht dort und wissen nicht, wer krank geworden und gestorben ist. Aber wir wundem uns, dass die Geschichte des „patriotischen Virus“ nicht mehr Fragezeichen auslöst.

 

Vergleichender Zeitstrahl der Epidemien
Verlauf/Ereignis Wuhan Italien Südkorea Deutschland USA
Bis Einweisung des ersten diagnostizierten Patienten 15 Tage 25 Tage Nicht vergleichbar Nicht vergleichbar Unklar
Nach rund 50 Tagen Rund 500 Infizierte Rund 20.000 Infizierte Rund 700 Infizierte Rund 25.000 Infizierte Unklar
Bis erster Todesfall 54 Tage 36 Tage 36 Tage 40 Tage 39 Tage
Bis Lockdown / Kontrollmaßnahmen 67 Tage (total) 50 Tage (nicht total) 3 Tage (Kontrollen) 50 Tage (nicht total) 54 Tage (teilweise)
Bis letzte Massenveranstaltungen 66 Tage 49 Tage (34 Tage bis Fußballspiel Bergamo) 6 Tage 49 Tage (23 Tage bis Karneval) 54 Tage (und später)
Bis deutlicher Anstieg der Todeszahlen 75 Tage (einstellig auf rund 40/Tag) 52 Tage (auf über 100/Tag) -- 65 Tage (auf über 100/Tag) 68 Tage
Höhepunkt der Tödlichkeit

Tag 80-95, ca.: rund 100 Tote/Tag

Peak Tag 90: 143 Tote/Tag

ab Tag 64: über 600 Tote/Tag

Peak Tag 70: 971 Tote/Tag

ab Tag 43 rund 5 Tote/Tag, kein Peak ab Tag 70 um 200 Tote/Tag, kein Peak

ab Tag 72 über 1000 Tote/Tag

Peak Tag 86: fast 5000 Tote/Tag

Infizierte um Tag 85 150.000 Infizierte (rückestrapoliert aus Todeszahl) 1.200.000 Infizierte (geschätzt) Ca. 10.000 Infizierte (Getestete + Schätzung) 280.000 Infizierte (geschätzt) 4 Mio. (geschätzt aufgrund v. Todeszahlen
Tote gesamt 3896 Tote (ca. 130 Tage) 21.067 Tote (89 Tage) 229 Tote (89 Tage) 3254 Tote (78 Tage) 40.682

Anmerkung: In der Tabelle ist nur Wuhan aufgeführt, da die Zahlen für Gesamtchina offensichtlich unvollständig sind. Der Zeitstrahl rechnet für Wuhan ab 17. November 2019, für Italien, Südkorea und USA ab 20. Januar 2020, für Deutschland ab 25. Januar.  Schätzungen beruhen auf einer Mortalität von 2%, schwere Verläufe 20% und unbemerkte bis sehr leichte Verläufe (die leicht unerkannt und unerfasst bleiben) von 10-20%.

 

Zusatzdaten: Tests, Tracing und der Grund für den "koreanischen Sonderweg"
China Italien Südkorea Deutschland
Keine Daten zu Tests 17. April 2020: 1.240.000 Tests, davon 168.941 positiv, Positivquote 13,6% 18. April 2020: 554,834 Tests, davon 10.653 positiv, Positivquote 1,92% 5. April 2020: 1.370.000 Tests, davon 168.941 positiv, Positivquote 6,7%

 

Stand: 20. April 2020

 

L. S.

 

Nachtrag vom 5. Mai 2020:

 

Zahlen aus ourworlddindata.org; für Wuhan rekonstruiert aus offiziellen Todeszahlen.

 

Ein Zusatz angesichts aktueller Polemiken:

Den Ärzten der Infektionsabteilungen in Wuhan gilt unsere ganze Bewunderung. Sie erkannten innerhalb von maximal zwei Wochen anhand weniger Fälle, dass ihre Patienten möglicherweise eine neuartige Lungeninfektion hatten. Sie reagierten umgehend, und schickten Proben an verschiedene Labore ein. Diese arbeiteten ebenso effizient, so dass vor Ende Dezember die Erkenntnis gewonnen war, dass ein neues Coronavirus auf Menschen übergesprungen war. Diese Leistung wird uns peinsam bewusst, wenn wir kurz darüber nachdenken, wie lange Krankenhausärzte in vielen anderen Städten der Welt brauchten, um zu realisieren, welche Krankheit ihre Patienten hatten, nachdem sie längst vor dem neuen Virus gewarnt waren.

Die Verbreitung der Krankheit bis Ende Dezember in Wuhan war unvermeidlich, die fortgesetzte exponentielle Verbreitung allerdings eine Folge des Maulkorbs die die Regierung den Fachleuten verpasste und politischer Entscheidungen die die Vermeidung von negativen Eindrücken über Menschenleben stellen. Die ersten drei Januarwochen haben mithin klar in Zusammenhang zu setzen mit der Entwicklung von einem regionalen Ausbruch zur weltweiten Pandemie.

Ein weiterer Faktor aber ist der Umstand, dass in einer vernetzten Welt, die sich gern als „global village“ stilisiert, unter erheblichem Aufwand zur Verfügung gestellte Informationen schlicht ignoriert wurden. Seit Ende Januar lagen alle zentralen Informationen vor, trotzdem liefen Vorbereitungen langsam an, wenn überhaupt, und es gab vielerorts Verzögerungen in der Realisierung der epidemischen Verbreitung. Hier spielte chinesische Vernebelung keine Rolle mehr, aber sehr wohl Überheblichkeit und Realitätsferne…

 

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Letzte Änderung: 25.08.2020
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