„Wieso sind sind die eigentlich hier?!“

Heidelberg, 30.01.20:

Eine Frage, die ich vor knapp zwei Jahren fast jeden Tag gestellt bekam. Oft in Kombination mit echter Überraschung oder totaler Verwirrung des Fragenden, angesichts der großen Flüchtlingswelle aus Syrien und Afrika. „Was? Da sind Chinesen im Flüchtlingsheim? Wie sind die denn hier her gekommen?“ Eine Frage von vielen Fragen, die ich gerne mit „Flugzeug“, beantwortete, denn „der Seeweg über Griechenland bringt denen nicht so viel.“

Im Zuge der damals wachsenden Zahl von Asylsuchenden, wurden in einigen Dörfern Container für Unterkünfte aufgestellt. Die Kirche wurde informiert und der Stadtrat tat sich zusammen, Asylsuchende in die kleinen Ortsgemeinden zu integrieren. Freiwilligendienste wurden eingerichtet. So auch in den kleinen Ortschaften E. (ca. 1800 Einwohner, katholisch und evangelisch) und A. (ca. 1600 Einwohner, evangelisch); beides Stadtteile von E. im Landkreis H.

Was tun, wenn da plötzlich ein Mohammed aus Xinjiang, China vor einem steht? Wieso heißt der eigentlich nicht „Tschang“ oder „Ding“? Viele Einwohner reagieren mit Empörung: „Wieso ist der Chinese bei uns und nimmt den anderen, armen Flüchtlingen den Platz weg? Ich dachte Chinas Wirtschft geht’s so gut? Die haben doch ein Shanghai, oder?“

Aber was ist denn „ein Shanghai“? Komisch, dass China ein so bekanntes Land ist und trotzdem haben nur die wenigsten einmal von der Provinz Xinjiang gehört. Das Weltbild einiger Dorfgemeinden Deutschlands wurde auf den Kopf gestellt. Nicht ganz China ist buddhistisch. Chinesen sprechen kein Japanisch. Chinesen wissen, was eine Kartoffel ist. Und China ist nicht gleich China. Es gibt die Taiwan-Frage. Es gibt Debatten zu Tibet. Shanghai ist nicht das komplette China. Mit Hongkong will ich gar nicht erst anfangen. Aber der größte Schock für die Einwohner: Es gibt tatsächlich eine Provinz namens Xinjiang mit muslimischer Bevölkerung. Sehr komisch...

Eine chinesische Frauengruppe besucht sogar regelmäßig den evangelischen Gottesdienst. Sie singen jetzt auch im Kirchenchor. Plötzlich erfahren die kleinen Gemeinden, dass es auch Christen in der Volksrepublik gibt. Es gibt verfolgte Christen. Aber auch Christen, die Ihren Glauben ausleben dürfen und aus ganz anderen Gründen ins Dorf zu uns kamen. In einem Fall wurde ein chinesisches Ehepaar nahe Shanghai von der lokalen Regierung verfolgt, weil sie einen Korruptionsfall in der Firma in der sie angestellt waren aufdeckten. Sie hatten eine Gruppe von Demonstrierenden vor dem Polizeirevier angeführt und das Pech, dass der Chef der Firma mit einem hohen Tier der lokalen Regierung gemeinsame Sache machte.

Einen interessanten Fall boten auch einige aus der Frauengruppe, welche nachträglich als Anhängerinnen einer religiösen Sekte entlarvt wurden, mit einem Missionierungsauftrag für Chinesen in Deutschland. Sie glaubten an die Wiedergeburt Jesu Christi in Form eines Mädchens namens Deng, welches gegenwärtig Asylantin in den USA ist.

Ein älterer Chinese kam mit Enkelin und Frau nach Deutschland, verstand die Verwaltung nicht und hielt die Meldepflicht im Allgemeinen für lästig. Als ihm klar gemacht wurde, dass er im Asylverfahren gewisse formale Leistungen zu erbringen hatte, beschloss der Mann wieder zurück in die Volksrepublik zu gehen. Der Grund seiner Flucht ist wegen des Datenschutzes unbekannt. Doch er stellte klar, dass was auch immer ihm in der Heimat wiederfahren war, nichts im Vergleich zur deutschen Bürokratie war. Nicht einmal gute Tusche für seine Kalligraphie konnte er hier bei uns auftreiben.

Unterm Strich ist es so: Auch Asylsuchende aus der Volksrepublik China haben zunächst ein Recht auf einen Asylantrag. Nicht nur „unsere Wirtschaftsflüchtlinge“ aus dem Kosovo, oder die „armen Kriegsflüchtlinge aus Syrien, Iran und dem Irak“. Grundsätzlich muss der Grund der Flucht nur im persönlichen Gespräch mit dem Amt und auf dem Antrag angegeben werden. Bloß weil Nachrichten von einem Krieg berichten, ist Krieg nicht immer der Grund der Flucht. Sowohl Helfende im Asylheim der kleinen Gemeinden, als auch Asylsuchende ganz gleich welchen Landes erleiden früher oder später einen Kulturschock.

Für mich als „Übersetzerin auf dem Lande“ war die Arbeit oft persönlich. Es ist keine reine Übersetzungsarbeit. Nicht jeder Asylsuchende ist nett. Nicht jeder Kirchgänger verhält sich gemäß christlichen Werten. Ein Asylheim oder Container ist immer ein Ort, an dem viele verschiedene Kulturen aufeinander prallen. Und das ohne jegliche interkulturelle Sensibilisierung.

Auch auf Seiten der Helfenden kann man die Wirkung von Vorurteilen weiter beobachten. Der christliche Flüchtling bekommt 5 Paar Wollsocken von der katholischen Oma gestrickt. Der Moslem nur eines aus gutem Willen. Der Asylsuchende aus Afrika bekommt eine kirchliche Sonderbehandlung, weil klar ist, dass schon seit Jahren die Spenden der Kirche an arme, schwarze Kinder für den Schulbau gehen. Dann will man eben Nachsicht zeigen: Die können halt nichts dafür, wenn der Antrag zu spät abgegeben wird. Aber diese chinesische Familie, die dauernd über ihren Fluchtgrund schweigt... die führen bestimmt was im Schilde. Die sind einfach nicht einzuordnen.

So und nicht anders läuft es. Aber zur Arbeit im Asylheim gehört mehr. Es sind Menschen wie Du und Ich. Und Sie wissen im Moment nicht wohin. Ihr Leben befindet sich in einer kompletten Umstrukturierung. Manche sind nett. Andere gemein. Vieles ist kulturell abhängig. Andere Dinge sind Ausreden. Die Fähigkeit, dies zu unterscheiden ist nicht angeboren. Sein Gegenüber auch mal als Individuum zu betrachten, nicht nur als einer großen Ethnie oder Bevölkerungsgruppe zugehörig, ist wichtig.

„Wieso sind die eigentlich hier?!“

„Woher soll ich das wissen?“ wäre wohl die treffendste Antwort.

Angelina H.

Zuletzt bearbeitet von:
Letzte Änderung: 05.03.2020
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