Die neue Seidenstraße – vor 30 Jahren
Als M. Gorbatschow im Frühjahr 1989 China besuchte, war die neue chinesisch-sowjetische Bahnverbindung von Xinjiang nach Kasachstan schon im Bau.
Ende 1992 meldete die "Beijing Rundschau": "Am 1. Dezember fuhr der erste Containerzug von Lianyungang, Provinz Jiangsu, direkt nach Westeuropa. Das markiert die offizielle Inbetriebnahme der neuen 'eurasischen Brücke'. Diese Eisenbahnlinie erstreckt sich über 10 900 km zwischen Lianyungang und Rotterdam und führt durch sieben Staaten: China, Kasachstan, Rußland, Belorußland, Polen, Deutschland und Niederlande." Interessant ist hierbei - abgesehen davon, daß dieses Ereignis in Europa kaum zur Kenntnis genommen wurde – vor allem die Betonung der Endpunkte Ostasien und Westeuropa und der Verzicht auf einen Hinweis darauf, dass mehr als 10000 km dieser Verbindung seit langem existieren. 1992 wurde nur ein etwa 220 km langer Abschnitt im westlichen Xinjiang eröffnet und an das Eisenbahnnetz von Kasachstan angeschlossen. Auf jeden Fall läßt sich feststellen, dass die ursprünglichen Ziele bei der Planung und Konstruktion dieser Strecke heute vergessen sind und die gegenwärtige Situation in diesem Gebiet damals nicht vorhersehbar war.
Die Planungen für den Bau der Strecke gehen auf die frühen fünfziger Jahre zurück als die Regierungen der neugegründeten Volksrepublik China und der Sowjetunion Überlegungen für bessere Verkehrsverbindungen zwischen den Staaten anstellten. Zwar existierte seit Anfang des 20. Jahrhunderts bei Manzhouli eine Verbindung des chinesischen Eisenbahnnetzes an die Transsibirische Eisenbahn, doch war diese Strecke durch die Nordostprovinzen sehr lang und von unzureichender Kapazität. Bei den Planungen für eine direktere Verbindung wurde zunächst der Strecke durch die Mongolische Volksrepublik Vorrang eingeräumt, da diese aufgrund der kürzeren Entfernung und der günstigeren geographischen Bedingungen geringere Investitionen und eine kürzere Bauzeit erforderte. Schon 1955 konnte die mongolische Route in Betrieb genommen werden. Als im vorangegangenen Jahr als Lanzhou, die Provinzhauptstadt von Gansu, an das chinesische Netz angeschlossen worden war, hatten China und die Sowjetunion eine Übereinkunft für die Vermessung der über 2000 km langen Verbindung von dort nach Kasachstan erzielt. Neben der Verbesserung der Handelsbeziehungen zwischen beiden Staaten und der Erschließung der Rohstoffe Nordwestchinas - vor allem Erdöl - strebte die chinesische Führung eine bessere Integration der Minderheitenvölker Xinjiangs an, während die Sowjetunion an einer Stärkung ihres in dieser Region schon in den dreißiger und vierziger Jahren großen Einflusses interessiert war. 1958, als auf sowjetischer Seite die Lücke bis zur Staatsgrenze schon weitgehend geschlossen werden konnte, begannen die Bauarbeiten auf der chinesischen Seite; Ende 1962 wurde das etwa 1900 km von Lanzhou entfernte Zentrum Xinjiangs, Ürümqi erreicht.
Probleme
Doch Anfang der sechziger Jahre hatte sich die politische und wirtschaftliche Situation vollkommen geändert: die Beziehungen zwischen den beiden Parteien und Staaten verschlechterten sich, die sowjetischen Techniker wurden abgezogen und China geriet in eine Finanzkrise; da nun die Notwendigkeit dieser Verkehrsverbindung in Frage gestellt wurde und außerdem die Bedeutung der Ölfelder Xinjiangs durch die Entdeckung neuer Vorkommen in Nordostchina (Dazhai) sank, wurden die kostspieligen Bauarbeiten eingestellt, sodass Ürümqi für über zwei Jahrzehnte Endpunkt der wichtigsten chinesischen Ost-West-Verbindung blieb. Die Entfernung zu den Großstädten Beijing, Nanjing und Shanghai beträgt über 3500 km, für die auch die schnellsten Expresszüge mehr als drei Tage brauchen.
Erfolge
Mit dem wachsenden Handel und der langsamen politischen Klimaverbesserung in den achtziger Jahren wuchs in China und in der Sowjetunion das Interesse an der Schließung der relativ kleinen Lücke zwischen beiden Eisenbahnnetzen. Im Mai 1985 wurde der Bau der etwa 460 km langen Strecke von Ürümqi zum Alataw-Paß begonnen und fünf Jahre später vollendet. Während an der Zeremonie bei der Verbindung der beiden Eisenbahnnetze am 12. September 1990 noch der stellvertretende sowjetische Verkehrsminister teilnahm, erschien zur Eröffnung des regelmäßigen Personenverkehrs im Juni 1992 schon der Vizepräsident Kasachstans. Ab September 1992 verkehrten regelmäßig Personenzüge zwischen Ürümqi, Alma Ata und Taschkent, außerdem fuhren täglich Güterzüge mit Containern zwischen Lianyungang und dem Alataw-Paß.
Behindernd für die Verkehrsentwicklung auf der neuen "eurasischen Brücke" sind - wie auch bei den Verbindungen über Nordostchina und die Mongolei - die unterschiedlichen Spurweiten, die langwierige Aufenthalte an den Grenzen erzwingen. Auch die Tatsache, dass die Spurweiten an den Endpunkten in Ostasien und Westeuropa gleich sind, nützt nicht viel. Außerdem war ein großer Teil der Strecke innerhalb Chinas noch einspurig und nicht elektrifiziert, wodurch sowohl Geschwindigkeit als auch Kapazität der Verbindung begrenzt wurde. Hinzu kam die große Anfälligkeit bei Naturkatastrophen oder schwereren Unfällen, die die Strecke über Wochen blockieren konnten.
Neue Probleme
Die Eisenbahnverbindung von Xinjiang nach Kasachstan, die ursprünglich zur Stärkung der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit der kommunistischen Zentralregierungen in Peking und Moskau geplant worden war, ist in einer weitgehend veränderten Welt fertig gestellt worden. Natürlich nützt die Verbesserung der Ost-West-Verbindungen auch den Regierungen Chinas und Rußlands; für Xinjiang und Kasachstan hat die "eurasische Brücke" jedoch weitaus wichtigere Konsequenzen, da die durch die begrenzten Verkehrsverbindungen begründete Abhängigkeit Xinjiangs von Beijing und Kasachstans von Moskau reduziert wurde. Xinjiang kann von den Verbindungen nach Europa, Kasachstan von den besseren Transportmöglichkeiten nach China, Japan, Korea, Hongkong, Australien, etc. profitieren, was wiederum den Regierungen in Beijing und Moskau, die den Eisenbahnbau initiiert hatten, schaden könnte. Vor allem könnten die verbesserten Verkehrsverhältnisse die Kontakte zwischen den Turkvölkern Zentralasiens und die Verbindungen Xinjiangs zum Iran, der Türkei und den arabischen Staaten stärken, was die Beziehungen zwischen der Autonomen Region Xinjiang und der chinesischen Zentralregierung belasten würde.
Aufgrund der gespannten politischen Verhältnisse profitieren die Touristen aller Länder, die theoretisch bequem mit der Bahn Samarkand, Taschkent, Alma Ata, Ürümqi, Turfan und andere zentralasiatische Städte besuchen könnten, noch nicht sehr von der neuen Seidenstraße.
Dr. Thomas Kampen