Newsletter August 2007 Nr. 14

INHALT

"Was der Partei fehlt ist nicht Lob, sondern Kritik."

Bis 2004 war Jiao Guobiao Professor für Journalismus an der Peking Universität. Dann wurde er vom Unterricht suspendiert - vermutlich aufgrund eines Artikels, in dem er die Abschaffung der chinesischen Propagandaabteilung forderte. SHAN traf den momentan in Berlin lebenden Professor einen Tag nach seinem Vortrag am Heidelberger Institut für Sinologie zum Gespräch.

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Famulatur in Wuhan: Wie zwei Heidelberger Medizinstudentinnen den Alltag in einem chinesischen Krankenhaus erlebt haben

Nicht nur Sinologen verschlägt es nach China. Karin Scholz und Anna-Sophia Schlicker haben ihre im Rahmen des Medizinstudiums vorgeschriebene Famulatur in Wuhan absolviert. Sie wussten, dass der Krankenhausalltag in China anders aussieht als in Deutschland, aber von der Realität waren sie dann doch überrascht.

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Der erste Sinologiestudent: Philipp Schaeffer

In der vergangenen Ausgabe des Newsletters konnten Sie etwas über F. E. A. Krause lesen, den ersten Dozenten der Heidelberger Sinologie. Der erste Student, der nachweislich bei ihm Sinologie studierte, war Philip Schaeffer.

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Ankündigung

Die Nacht der Wissenschaft 2007

In anderen Städten seit Jahren eine feste Institution, in der Rhein-Neckar-Region noch Neuland: Am 10. November 2007 wird in Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen die erste Nacht der Wissenschaft stattfinden, während der Institute, Unternehmen und Forschungseinrichtungen ihre Arbeit und aktuelle Projekte der Öffentlichkeit zugänglich machen können.

Auch das Heidelberger Institut für Sinologie und SHAN beteiligen sich an der Veranstaltung und werden in den Räumen des Instituts ein interessantes Programm rund um das Fach Sinologie präsentieren. Näheres erfahren Sie in den kommenden Ausgaben des Newsletters.


Veranstaltungskalender

Ausstellung, Musik und Tee: "Chinesische Klänge und Teezeremonie"

26.08.2007, 17 Uhr: Textilmuseum Max Berk/Kurpfälzisches Museum, Heidelberg-Ziegelhausen. Im Rahmen der Kunstausstellung "Chinesisches Kunsthandwerk aus Wuxi" im Kurpfälzischen Museum (noch bis zum 16.09.2007) findet eine traditionelle Teezeremonie statt. Vor und nach der Zeremonie spielt Ye Huo auf der chinesischen Zither. Eintritt: 10€ mit Voranmeldung unter 06221-5834000 oder 06221-800317 oder per E-Mail an: kmh-textilsammlung-max-berk@heidelberg.de.

Workshop: "Kalligraphie-Workshop mit Zhenran Zhang"

02.09.2007, 14-17 Uhr: Ebenfalls im Rahmen der Ausstellung in der Textilsammung Max Berk. Anmeldung siehe oben.

Ausstellung: "Pflanzen und Menschen in Südwest-China"

19.07. - 21.10.2007: Palmengarten, Frankfurt. Die Ausstellung bietet Einblick in das traditionelle Wissen und die Verwendung von Pflanzen im täglichen Leben der Menschen Südwest-Chinas, beispielsweise in der Ernährung, als Heilmittel, zu rituellen Zwecken oder auch bei der Papierherstellung. Mehr dazu hier.


„Was der Partei fehlt ist nicht Lob, sondern Kritik“

Bis 2004 war Jiao Guobiao Professor für Journalismus an der Peking Universität. Dann wurde er vom Unterricht suspendiert - vermutlich aufgrund eines Artikels, in dem er die Abschaffung der chinesischen Propagandaabteilung forderte. SHAN traf den momentan in Berlin lebenden Professor einen Tag nach seinem Vortrag am Heidelberger Institut für Sinologie zum Gespräch.

SHAN: Professor Jiao, wie ist es dazu gekommen, dass Sie Ihren Artikel „Taofa Zhongxuanbu“ („Feldzug gegen die Propagandaabteilung“) veröffentlicht haben?

Jiao Guobiao: Das habe ich gar nicht selbst getan. Ich hatte ihn einigen Freunden und Bekannten zum Lesen gegeben, um von ihnen Verbesserungsvorschläge zu bekommen und Anregungen, auf welchem Weg ich ihn am besten zur Diskussion in Akademikerkreisen verbreiten könnte. Ich wollte, dass die Propagandaabteilung ihre Arbeit durch meinen Artikel von sich aus verändert. Ich war völlig überrascht, als der Rektor der Pekinger Universität mich zu sich gebeten hat. Ich wusste damals nicht, dass der Artikel bereits im Internet kursierte.

Wie waren denn die Reaktionen in China nach der Veröffentlichung?

Das Aufsehen war ziemlich groß. Insgesamt kann man aber sagen, dass die Reaktionen recht positiv waren. Meine Studenten zum Beispiel haben mir unterstützende SMS geschrieben. Von Seiten meiner Kollegen gab es zwei Arten von Reaktionen. Die einen haben überhaupt nicht über den Artikel gesprochen, die anderen haben mich ebenfalls ermutigt. Niemand hat mir offen Vorhaltungen gemacht.

Gab es auch negative Reaktionen?

Doch, aber nur von offizieller Seite. Ich wurde zum Beispiel den ganzen Tag auf meinem Handy angerufen, besonders zur Essenszeit. Die Schulleitung hat mir gesagt, dass die Uni unter Druck gesetzt würde, aber auch sie haben mich nicht kritisiert. Keiner hat gesagt: „So etwas darf man nicht schreiben. Die Propagandaabteilung darf man nicht kritisieren.“

Aber die Veröffentlichung hatte negative Konsequenzen für Sie.

Ja. Der Artikel wurde im Frühjahr 2004 veröffentlicht. Als dann das neue Semester im Herbst begann, wurde ich für ein Semester vom Unterricht suspendiert. Im Frühjahr 2005 wollte die Universitätsleitung mich dann von der Abteilung für Journalismus in das Forschungszentrum für altertümliche Texte versetzen. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits eine Einladung von einer amerikanischen Universität und bin dorthin gegangen. Drei Tage nachdem ich in die USA gegangen war, erfuhr ich von meiner Familie, sie hätten eine schriftliche Mitteilung bekommen, ich hätte „freiwillig meine Arbeit gekündigt.“ Die Uni hat aufgrund von Druck von oben so reagiert.

Wissen Sie etwas über die Reaktion der Regierung auf Ihren Artikel?

Nachdem ich in die USA gegangen bin, las ich an der Georgetown University einen Aufsatz eines berühmten Chinaexperten. Darin stand, Hu Jintao hätte der Abteilung für Propaganda und dem Büro für Geistige Zivilisation die Anweisung gegeben: „Behaltet Jiao Guobiao im Auge, aber bestraft ihn nicht.“ Das war allerdings ganz am Anfang, kurz nach der Veröffentlichung meines Aufsatzes.

Sie ahnten sicherlich schon im Voraus, dass Sie gewisse Konsequenzen tragen müssten. Warum haben Sie den Artikel trotzdem geschrieben?

Weil ich die Arbeit der Propagandaabteilung hasse. Ich habe den Artikel damals geschrieben, weil ich meinte, dass es das wert ist. Mein Aufsatz schadet der Propagandaabteilung und bringt der chinesischen Gesellschaft etwas Positives. Die Folgen für mich, dachte ich, seien zweitrangig. Aber wenn man mich heute bitten würde, den Aufsatz noch einmal zu schreiben, würde ich es wahrscheinlich nicht tun.

Was meinen Sie ist der Grund, weshalb die Mehrheit der Chinesen die Gedankenkontrolle der Regierung akzeptiert?

Ich denke, die meisten Menschen beschäftigen sich überhaupt nicht damit. Nehmen wir einen einfachen Arbeiter. Er geht jeden Tag zur Arbeit und kommt dort überhaupt nicht mit solchen Fragen in Berührung. Ich denke, die meisten Leute interessieren sich nicht dafür, weil sie nicht damit in Kontakt kommen.

Wie gefällt Ihnen das Leben in Deutschland?

Ich komme insgesamt ganz gut zurecht. Ich war vorher ja schon mal ein halbes Jahr in den USA. Hier in Deutschland gibt es weniger Chinesen als in den USA. Oder vielleicht habe ich auch einfach nur mit weniger Chinesen zu tun. Das ist mir eigentlich ganz recht. Denn egal, ob man nun ‚für’ oder ‚gegen’ die Regierung ist, das Thema ist immer und überall präsent Da fühlt man sich nicht wohl. Jetzt, wo ich weniger mit Chinesen im Kontakt bin, habe ich auch weniger mit diesem Thema zu tun. Ich fühle mich dadurch gelassener und kann in Ruhe einige Dinge schreiben.

Sie wurden gestern nach Ihrem Vortrag am Institut für Sinologie von einigen chinesischen Kommilitonen heftig kritisiert. Was halten Sie von der Reaktion?

Mir wurde vorgeworfen, ich solle auch etwas Positives über die Propagandaabteilung sagen, man dürfe nicht nur kritisieren. Nur dann sei mein Vortrag ausgeglichen. Aber es sagen so viele Menschen in China Positives, da gibt es längst kein Gleichgewicht mehr. Und wenn ich noch zehn Mal Schlechtes sagen würde, gäbe es trotzdem immer noch kein Gleichgewicht, so viel Gutes wird ständig gesagt. Nette Worte gibt es schon zuviel. Was der Partei fehlt ist nicht Lob, sondern Kritik.

Haben Sie mit einer so heftigen Reaktion gerechnet?

Ich habe ähnliche Vorträge bereits an anderen Universitäten in den USA gehalten, unter anderem in Harvard, Yale und Berkeley. Ich muss sagen, dass ich bisher noch nie zuvor so heftig angegriffen wurde. Ich hätte allerdings auch nicht gedacht, dass ich hauptsächlich vor Studenten sprechen würde. Ich denke, es gab gestern zwei Arten von Studenten. Einmal die, die das, was ich erzählt habe, tatsächlich für absurd gehalten haben, weil sie selber keine solchen Erfahrungen gemacht haben. Die andere Gruppe von Studenten stand meiner Meinung nach unter dem Einfluss der chinesischen Botschaft.

Wieviele in Deutschland lebende chinesische Studierende werden Ihrer Meinung nach von der chinesischen Regierung kontrolliert?

Ich denke, alle werden mehr oder weniger beeinflusst. Ich glaube, die Studenten in China selbst sind von ihrer Denkweise fast noch freier, als die Studenten, die ins Ausland gehen. Studenten im Ausland werden viel stärker kontrolliert. Vielleicht ist es auch nur einfacher, Menschen im Ausland zu kontrollieren. Sie haben dort erst mal keine Verwandten und keine Freunde. Dann wird die Botschaft zu einer Stütze und die chinesische Studentenvereinigung zur Ersatzfamilie.

Wie glauben Sie, wird sich die Gedankenkontrolle in China in den nächsten Jahren entwickeln, insbesondere angesichts der Olympischen Spiele?

Die Regierung wird alles dafür tun, dass die Olympischen Spiele glatt verlaufen. Am Ausmaß der Gedankenkontrolle wird sich dadurch nicht viel ändern.

Professor Jiao, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führten Wan Li und Mareike Ohlberg.

 

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Famulatur in Wuhan

Wir haben uns für das Austauschprogramm mit Wuhan hauptsächlich deshalb beworben, weil wir einmal etwas völlig anderes machen wollten. Natürlich hatten wir auch ein spezielles Interesse an China. Wir wollten erfahren, wie eine uns völlig fremde Kultur und Gesellschaft funktioniert und wie man sich dort einbringen kann.

Krankenhaus
Das Tongji-Krankenhaus ist riesig und erinnert an einen Bahnhof. Pro Tag werden ca. 3000 Patienten durchgeschleust. Der Komplex besteht aus mehreren Häusern, einige davon über 20 Stockwerke hoch. Ein paar Eigenheiten sind uns besonders am Anfang aufgefallen. Dazu gehört beispielsweise, dass Ärzte und Patienten im Kranken- und Behandlungszimmer telefonieren. Es ist völlig normal, dass ein Patient mitten in der Anamnese das Handy abnimmt und fünf Minuten lang telefoniert. Der Arzt kümmert sich solange um andere Patienten. Privatsphäre gibt es kaum. Im Ambulanzzimmer sind meistens mehrere Patienten anwesend, fast jeder bringt Angehörige mit. Alle drängeln ins Zimmer, fragen und rufen sogar dazwischen, wenn der Arzt gerade mit anderen Patienten beschäftigt ist. Es war beeindruckend, mit wie wenig Mitteln Diagnose und Behandlung manchmal möglich ist. Andererseits gehen die Leute auch wegen Pickeln zum Arzt, vor allem besorgte Mütter mit ihren - einzigen - Kindern, die die anstrengenste Patientengruppe darstellen – das heißt, die Mütter sind anstrengend.

Dermatologie
Unsere erste Station war die Dermatologie. Dort lernten wir erst einmal das Krankenhaus kennen. Für uns zuständig waren zwei Professoren, die beide genug Deutsch konnten, um uns zu erklären, was die Patienten hatten, wie man es erkennt und behandelt. Außerdem lernten wir Blickdiagnosen zu stellen. Besonders einfach war das bei den wenigen Männern, die ohne Begleitung ins Ambulanzzimmer kamen, warteten, bis alle anderen Patienten mit Angehörigen den Raum verlassen hatten, um erst dann leise mit dem Arzt zu sprechen. In diesem Fall lag entweder Syphilis, Condyloma acuminata, Urethritis non gonorrhoica (alles sexuell übertragbare Krankheiten) – oder nicht selten männliche Paranoia bezüglich gewisser Körperteile vor. Eines Tages stand ein Mann in der Tür des Ambulanzzimmers, dem man auf den ersten Blick ansah, wer er war: ein Pharmavertreter. Genau der gleiche Typ Mensch wie bei uns.

Operationssaal
Nur nach mehrmaligem Nachfragen ist es uns gelungen, in den meist sehr vollen OP zu kommen. Operationen sind ein ganz besonderes Vergnügen in China – aber nicht für den Patienten. Im OP geht es zu wie auf dem Jahrmarkt. Leute kommen und gehen, unterhalten sich laut, Handys klingeln, man telefoniert – was besonders während des Operierens eine Herausforderung darstellt. An den Gerätetischen drückt sich vorbei, wer will, und um richtig sehen zu können, legt man sich den Operateuren über die Schulter, natürlich nur so weit, wie man sie nicht bei ihrer Arbeit behindert. Man darf sich bei alldem nicht wundern, dass die meisten Antibiotika-resistenten Bakterienstämme aus Asien kommen, denn irgendwie muss die mangelnde Hygiene im OP ausgeglichen werden. Was die Gelassenheit angeht, haben uns die Chinesen einiges voraus: Auf den Monitoren der Anästhesie werden bei weitem nicht so viele Parameter angezeigt wie in Deutschland, und die Angezeigten werden auch nicht immer sofort ernstgenommen. Ein Kammerflimmern kann auch mal einen Gerätefehler als Ursache haben und wozu in Panik verfallen, wenn nach drei Minuten wieder alles vorbei ist? Wenn der Patient mit den Beinen wackelt ist das ein gutes Zeichen dafür, die Sauerstoff-Versorgung vom Tubus zu nehmen, um ungeachtet der sinkenden Sauerstoff-Sättigung ein paar Minuten später den Tubus zu entfernen und eine Sauerstoff-Maske locker auf das Gesicht zu legen. Trotz allem scheint uns der „deutsche Weg“ übertrieben. Ein bisschen China würde uns in der Hinsicht gut tun.

Notambulanz
Eine besondere Erfahrung war die Nacht in der Notambulanz. Der Arzt hatte gesagt, ich solle abends wiederkommen, da dann mehr los sei, unter anderem, weil die meisten Zweiräder auf der Straße ohne Licht unterwegs sind. Gelernt habe ich in dieser Nacht vor allem eines: ein Pokerface zu bewahren, egal, was kommt. Als ich kam, lag ein Patient mit Schädel-Hirn-Trauma da, der wohl schon vor einer Weile eingeliefert worden war, denn es gab schon CT-Aufnahmen und die sahen gar nicht gut aus. Vorerst lag er da, hat gezittert und nicht mehr viel mitbekommen. Ab und zu wurde ihm mit einer Taschenlampe ins Auge geleuchtet: Pupillen noch klein? – Alles in Ordnung. Nach 45 Minuten erklärte der Arzt den Angehörigen, dass es nicht gut um den Patienten stehe. Trotz der massiven, weit innen gelegenen Hirnblutung und des späten Zeitpunkts, wurde noch operiert. Ich habe mich später kurz mit dem Arzt unterhalten, der operiert hat. Er meinte, dem Patient ginge es ganz gut. Was „ganz gut“ genau hieß, dafür reichte sein Englisch leider nicht mehr aus. Ein interessantes Phänomen, das bei Chinesen dann auftritt, wenn man bestimmte Fragen stellt, offenbar die falschen Fragen. In der Notambulanz fällt am deutlichsten auf, wie das chinesische Gesundheitssystem funktioniert: Wer zahlt, bekommt das, was er sich leisten kann. Wer bewusstlos eingeliefert wird, bekommt zwar eine Grundversorgung, behandelt wird er aber erst nach Barzahlung. Genauso bei der erforderlichen Schädel-OP, die 20 000 Yuan kostet. Operiert wird erst, wenn Geld da ist. Und bis das Geld da ist, braucht man das Pokerface. Kommt kein Geld, dann passiert auch nichts. Der Patient darf wieder gehen, ob er kann oder nicht. Die meisten Patienten an diesem Abend konnten sich ihre Behandlung leisten, auch wenn nicht immer so ganz klar war, wovon die Familie die nächste Zeit leben sollte.

Traditionelle chinesische Medizin
Der Grund für mich, Akupunktur zu machen, war zu erfahren, wie das System dort funktioniert, wo es hingehört, im Vergleich zu unserer Teilimportation an chinesischer Medizin. In Europa beruht „chinesische Medizin“ oftmals hauptsächlich auf schönen ruhigen Räumen, netten Ärzten und einer harmonischen Umgebung inklusive bequemer Liege – in China findet man das Gegenteil: Die Räume sind schmuddelig. Die Decken sind rissig und schimmeln, die drei Liegen pro Raum sind mit fleckigen Laken bezogen. Einer der Ärzte raucht, im Raum wird laut geredet, manchmal wird direkt über den Patienten die Decke repariert. Und trotzdem wirkt es! TCM und Schulmedizin führen eine sich ergänzende Koexistenz. Medizinstudenten sind ein Semester in der TCM, TCM -Ärzte (eine eigene sechsjährige Ausbildung) machen Konsile in anderen Stationen, wenn Akupunktur gewünscht ist. Bei der TCM spielt Ausgeglichenheit im Sinne von sich gegenseitig ergänzenden und begrenzenden Gegensatzpaaren eine große Rolle. Wichtig ist, dass etwas funktioniert, weniger, warum. Diese Haltung hat die Konsequenz, dass man nicht nur sieht, was nicht geht, sondern aus dem, was man hat, das beste macht und den Rest als unbeeinflussbar akzeptiert. Auf das chinesische Krankheitsverständnis hat es die Auswirkung, dass Gesundheit nicht als Abwesenheit von jeglicher Krankheit (also einem utopischen Idealzustand, den wir hier wie selbstverständlich fordern) gesehen wird, sondern eher sokratisch, nämlich als Zurechtkommen mit seinen Gebrechen auf dem bestmöglichen Niveau. Daraus leitet sich auch eine ganz andere Compliance der Patienten ab, denn wer nicht den passiven „mach mich gesund“-Anspruch an den Arzt hat, sondern eine aktive Haltung und die Einsicht, dass er zumindest für den Umgang mit seiner Krankheit oder vielleicht sogar für Teile seiner Krankheit selbst verantwortlich ist, der arbeitet viel aktiver und änderungsbereiter an seiner Heilung mit. Für die traditionelle chinesische Medizin bedeutet das, dass sie wirklich ganzheitlich praktiziert wird. Einer der Ärzte, die westliche Medizin praktizieren, erzählte mir, er fände es höchst interessant, wie europäische Ärzte nach einem halben bis einem Jahr Ausbildung „chinesische Medizin“ anwenden können.

Wir lieben China und glauben auch, das Land gut kennen gelernt zu haben, nicht zuletzt wegen der vielen Kontakte, die wir zu Chinesen hatten und zum Teil noch immer haben.


Karin Scholz und Anna-Sophia Schlicker

 

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Der erste Sinologiestudent: Philipp Schaeffer

Der erste Student, der nachweisbar bei Major Dr. Friedrich Ernst August Krause (1879-1942) in Heidelberg Sinologie studierte, war Philipp Schaeffer. Schaeffer wurde am 16. November 1894 in Königsberg geboren und zog bald darauf mit seinen Eltern nach St. Petersburg. Dort begann er 1913 das Studium der Sinologie, das er jedoch wegen des Kriegsausbruchs bald abbrechen musste.

1918 zog Philipp Schaeffer mit seiner Frau Antonina und zwei Kindern nach Heidelberg, wo offenbar Verwandte von ihm lebten. 1920 setzte er sein Sinologiestudium bei dem 1919 in Heidelberg eingetroffenen Dr. Krause fort. Schaeffer lernte Chinesisch, Tibetanisch und Sanskrit und befasste sich vor allem mit chinesischer und indischer Philosophie. Er interessierte sich jedoch – wie Krause – auch für aktuelle Politik. Schaeffer war – aufgrund seiner Vorkenntnisse – vermutlich der erste Doktorand des Sinologischen Instituts der Universität Heidelberg und promovierte 1923. Der Titel seiner Dissertation war: Yukti-sastikâ: Die 60 Sätze des Negativismus.

Die Schaeffers sollen in Heidelberg Kontakt mit chinesischen Studenten gehabt haben, Antonina Schaeffer soll privat Russisch unterrichtet haben. Mit Schaeffer studierte auch die aus Mainz stammende Netty Reiling bei Dr. Krause, die später unter dem Namen Anna Seghers (1900-1983) eine berühmte Schriftstellerin wurde. Sie promovierte 1924, allerdings in Kunstgeschichte.

Kurz darauf verließen Philipp Schaeffer, Netty Reiling und ihr ungarischer Mann Heidelberg, sie zogen nach Berlin. Schaeffers Frau ging nach einiger Zeit zurück nach Heidelberg, die Ehe wurde geschieden.

Schaeffer arbeitete in Berlin als Bibliothekar, heiratete eine Bildhauerin und wurde 1928 Mitglied der KPD. Er soll sich um einen Arbeitsplatz in China bemüht haben, allerdings ohne Erfolg. In diesen Jahren arbeitete er auch an einem chinesischen Wörterbuch, das jedoch nie fertig wurde. 1935 wurde er verhaftet und verbrachte zunächst fünf Jahre im Zuchthaus. Nach seiner Entlassung knüpfte er Kontakte mit verschiedenen Widerstandskämpfern. 1942 wurden Schaeffer und seine Frau erneut verhaftet, Schaeffer wurde am 13. Mai 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Anna Seghers, die sich damals im Exil befand, veröffentlichte dreißig Jahre später kurze »Erinnerungen an Philipp Schaeffer«.


Literatur:

Washington: Verlauf und Ergebnisse der Konferenz; Der Bolschewismus in Asien / F. E. A. Krause; Philipp Schaeffer. München, 1922.

Yukti-sastikâ: Die 60 Sätze des Negativismus / [Nagarjuna]. Nach der chinesischen Version übers. von Phil. Schäffer. Leipzig, 1923 (Materialien zur Kunde des Buddhismus; H. 3).

Die Weltanschauung des modernen Buddhismus im fernen Osten / Otto Rosenberg. Aus d. Russ. übers. von Ph. Schaeffer. Leipzig, 1924.

Anna Seghers: Erinnerungen an Philipp Schaeffer, Berlin, 1975.

Thomas Kampen: Der erste Sinologe: Friedrich Ernst August Krause, Heidelberg, 2007 (http://www.sino.uni-heidelberg.de/alumni/newsletter/07-07/krause.htm).


Dr. Thomas Kampen

 

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Zuletzt bearbeitet von: AF
Letzte Änderung: 04.12.2014
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