Das Settlement-Haus der Reichsuniversität Tokyo: Die Überwindung sozialer Ungleichheit im Japan der Zwischenkriegszeit

Inhalt des Projekts

Im Jahre 1923 gründete eine Gruppe linker Studenten und liberaler Professoren der Reichsuniversität Tokyo ein Settlement-Haus im Arbeiterviertel Honjo in Tokyo. In diesem Haus, in dem Studenten als „settler“ gleichsam inmitten des Proletariats wohnten, war eine Abendschule für Fabrikarbeiter/innen angesiedelt, in der Studenten und Professoren lehrten und die mehrere Gewerkschaftsführer und Politiker hervorbrachte. Die Idee eines solchen Settlement-Hauses stammte aus dem viktorianischen Großbritannien und hatte seit Ende des 19. Jahrhunderts weltweit Anklang gefunden; auch in Japan existierten in den 1920er Jahren etwa zwei Dutzend solcher Häuser. Unter diesen nahm das mit der wichtigsten Universität des Landes verbundene Settlement in Honjo, das 1923 nach dem großen Erdbeben in Tokyo gegründet wurde, eine gewisse Sonderstellung ein. Auch deswegen konnte es, trotz der offenen Verbindungen zu linken Kreisen, bis weit in die Zeit von Militarismus und Faschismus hinein weiterbestehen und wurde erst 1938 – dann allerdings zwangsweise durch die Behörden – geschlossen.

Die Studenten der Universität Tokyo, größtenteils aus dem Fach Jura, teils aber auch aus der Medizin, Soziologie und anderen Fächern, und viele auch schon in der linken Studentenorganisation Shinjinkai 新人会 aktiv, organisierten ihre Arbeit im Settlement in den folgenden Abteilungen:

  • Forschung (chōsa-bu 調査部): Um die Nachbarschaft besser kennenzulernen und um ihre Fähigkeiten als empirische Sozialforscher zu verbessern, führten die Studenten bis 1929 regelmäßig Umfragen und Untersuchungen in Honjo durch.
  • Arbeitererziehung (rōdōsha kyōiku bu 労働者教育部): Die Arbeiterschule war für die Studenten der wohl wichtigste Teil des Settlement. Dozenten der Universität Tokyo und Auswärtige unterrichteten hier und hielten Einzelvorträge.
  • Erwachsenenbildung (shimin kyōiku bu 市民教育部): Neben dem gezielt an Arbeiter gerichteten Unterrichtsprogramm der Arbeiterschule mit Schwerpunkten in Gewerkschaftsarbeit, Ökonomie und Sozialwissenschaften bot das Settlement auch ein breiteres allgemeinbildendes Programm von Kursen und Vorträgen an.
  • Kinder (jidō-bu 児童部): Um arbeitenden Paaren möglichst lange Beschäftigungszeiten zu ermöglichen, wurden Schulkinder nachmittags bis abends betreut.
  • Kleinkinder (takuji-bu 託児部): Auch für noch nicht schulpflichtige Kinder wurde ein Hort eingerichtet.
  • Rechtsberatung (hōritsu sōdan bu 法律相談部): Rechtswissenschaftler von der Universität Tokyo boten eine kostenlose Rechtsberatung z.B. bei Mietstreitigkeiten oder arbeitsrechtlichen Problemen an.
  • Medizinische Versorgung (iryō-bu 医療部): Ebenso fand sich Personal der medizinischen Fakultät der Universität Tokyo bereit, eine kostenlose Hausarztpraxis für Bewohner des Viertels in den Räumlichkeiten des Settlement zu betreiben.
  • Konsumgenossenschaft (shōhi kumiai bu 消費組合部): Im Zuge der damals in Japan populären Bewegung der Konsumkooperativen eröffnete 1927 auch das Settlement im eigenen Haus eine Konsumgenossenschaft, die weitgehend von Bewohnern des Stadtteils geführt wurde.

Wie an der Aktivität der Abteilungen ersichtlich, ist das Settlement-Haus der Reichsuniversität Tokyo eines der einflussreichsten Beispiele für die Bemühungen progressiver Kräfte im Vorkriegsjapan, praktisch tätig zu werden, um das als ungleich empfundene sozio-ökonomische System zu ändern. Das vorliegende Projekt hat zum Ziel, die theoretischen Überlegungen hinter und die praktische Arbeit in dem Settlement-Haus der Reichsuniversität Tokyo zu rekonstruieren. Dazu ist das Projekt in drei Teilprojekte aufgeteilt: 1) Arbeiterbewegung, 2) Sozialpolitik, 3) Sozialwissenschaften und höhere Bildung.

Ad 1): Das Settlement-Haus half die japanische Arbeiterbewegung sowohl der Vor- als auch der Nachkriegszeit zu prägen. Insbesondere sollen die in der Forschung wenig beleuchteten Verbindungen zwischen den theoretischen Anstrengungen progressiver Denker und den praktischen Bemühungen von Aktivisten zur Gesellschaftsreform untersucht werden. Im Mittelpunkt steht ein Vergleich zwischen den theoretischen pädagogischen Überlegungen zur Arbeiterschule – inklusive dem Vergleich zu anderen Arbeiterschulen der 1920er Jahre und anderen Formen der Erwachsenenbildung wie den Freien Universitäten (jiyū daigaku 自由大学) – und deren Praxis. Von besonderem Interesse ist es, die Lebenswege von Arbeitern zu verfolgen, welche die Arbeiterschule besuchten.

Ad 2): Durch die Rechtsberatung, Gesundheitsvorsorge und Kinderbetreuung war das Settlement-Haus ein Anbieter von Wohlfahrts- und Fürsorge-Leistungen. Das Projekt beabsichtigt, den Beitrag anderer Akteure in der Sozialpolitik neben dem in der Forschung allmächtig erscheinenden Staat, auch in ihren Wechselbeziehungen untereinander, angemessen zu würdigen. Hierfür lohnt ein vergleichender Blick zu den zahlreichen anderen Settlement-Häusern bzw. ähnlichen Einrichtungen in Tokyo zur selben Zeit. Ein besonderes Augenmerk gilt der Kinderbetreuung, die als gesellschaftliche Notwendigkeit in den 1920er Jahren intensiv diskutiert und auch in der wissenschaftlichen Pädagogik erstmals zum Thema wurde.

Ad 3): Die Gründung des Settlement-Hauses fällt in die Zeit des Aufstieges der modernen Sozialwissenschaften in Japan und war stark durch diese geprägt. Andersherum hat die praktische Arbeit im Settlement-Haus aber auch neue hochschuldidaktische Ansätze angeregt und zu neuen Formen der Interaktion zwischen Professoren und Studenten geführt. Dieser Aspekt ist in der Hochschulgeschichtsschreibung bislang noch gar nicht behandelt worden. Die Jura-Professoren Suehiro Izutarō 末弘厳太郎 und Hozumi Shigetō 穂積重遠 sowie der Soziologe Toda Teizō 戸田貞三 spielten eine bedeutende Rolle in der Betreuung des Settlements durch die Universität; sie waren zugleich unter den innovativsten Professoren, die eine Reform der Lehrpraxis an der Universität anstrebten.

Indem das Settlement-Haus der Reichsuniversität Tokyo in der größeren Geschichte der Arbeiterbewegung, der Sozialpolitik und der Sozialwissenschaften und höheren Bildung in Japan in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verortet wird, sollen die Querverbindungen zwischen diesen Bereichen herausgearbeitet werden, zusätzlich zu den internationalen Kontexten, die jeweils wirkmächtig waren. So wurde die sowjetische Forderung nach einer spezifischen proletarischen Kultur über ihre britische Ausformulierung rezipiert und auf eine Theorie der Erwachsenenbildung in Japan angewendet, während der empirical turn in den Sozialwissenschaften, der seine praktische Ausprägung im Settlement fand, auf Erfahrungen der Professoren in den USA basierte. Ein Hauptaugenmerk des Projekts liegt auf den Wechselbeziehungen zwischen Theorie und Praxis in progressiven sozialen Bewegungen. Die Ergebnisse des Projekts sollen einfließen in ein längerfristiges und umfangreicheres Buchvorhaben zur Geschichte von Gleichheit und Ungleichheit im modernen Japan.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat Mittel für drei Jahre zur Verfügung gestellt, damit diese Fragen im Rahmen des Projekts „Das Settlement-Haus der Reichsuniversität Tokyo: Die Überwindung sozialer Ungleichheit im Japan der Zwischenkriegszeit“ an der Universität Heidelberg beantwortet werden können. Während der Laufzeit des Projekts, vom 1. April 2021 bis 31. März 2024, untersucht ein Team von WissenschaftlerInnen unterstützt von wissenschaftlichen Hilfskräften am Institut für Japanologie der Universität Heidelberg systematisch die Vorgänge im Settlement-Haus und deren Beitrag zu sozialer Gleichberechtigung in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen.

Vorstellung des Teams

Deleu, Hanne (04/2021–12/2021)
  • Zuständig für Sozialpolitik
  • 2020 M.A. Transcultural Studies, Universität Heidelberg
Grover, Bruce Gordon
  • Zuständig für Ideengeschichte
  • Promovierend im Fach Japanologie an der Universität Heidelberg
  • 2014 M.A. an der School of Oriental and African Studies, University of London
Janzen, Violetta (04/2021–09/2023)
  • Zuständig für den Ideentransfer mit und die Kontakte zum Ausland, v.a. der Sowjetunion
  • 2020 M.A. Japanologie an der Universität Heidelberg
  • Zuständig für Bildungsgeschichte und den Transfer von Wissenschaft
  • Professor für Japanologie (Schwerpunkt Geschichte/Gesellschaft) an der Universität Heidelberg
Lau, Sai Kiet Niki (04/2021–12/2021)
  • Zuständig für Minderheiten und Labour Schools
  • 2020 M.A. International Christian University, Tokyo
Witt, Alice
  • Zuständig für Biographien von Lernenden und Lehrenden
  • Masterstudentin der Japanologie
  • 2019 B.A. Ostasienwissenschaften mit Schwerpunkt Japanologie, Universität Heidelberg

Aktivitäten

  • 22. und 23. November 2018, Workshop in Heidelberg in Zusammenarbeit mit dem HCTS (Heidelberg Center for Transcultural Studies), Gastgeber seitens des Instituts für Japanologie: Prof. Dr. Hans Martin Krämer und Prof. Dr. Till Knaudt, „Labor Schools and Settlement Houses: Global Efforts to Overcome Economic Inequity in Japan, the Soviet Union, and the Anglosphere in the Interwar Period“
    • Sarah Badcock (University of Nottingham), „Popular Enlightment Campaigns in 1917: Political Elites and ‚Ordinary‘ People“
    • Christopher Read (University of Warwick), „Proletkul't and Prosveshchenie (Enlightment): Developing a Strategy for Socialist Education”
    • Fabian Tompsett (University of East London), „Whose Civilisation? Whose Education: The Contribution of Cedar and Eden Paul as Seen Through the Workers‘ Dreadnought“
    • Bruce Grover (Universität Heidelberg), „The Tokyo Imperial University Labor School in Context: The Free University Movement, Proletkult, and New Culture in 1920s and 1930s Japan”
    • Aaron Retish (Wayne State University), „Cultural Education in Soviet Courts and Law”
    • Colin Jones (Columbia University), „Does the Law Live? The Yanagishima Settlement and the Question of Legal Consciousness“
    • Tom Woodin (University College London), „The Co-operative Movement and Education in Britain during the Interwar Period”
    • Chris Perkins (University of Edinburgh), „Models of Participatory Worker Education in Prewar Japan: The Cooperative of the Tokyo Imperial University Settlement House”
    • Laura Hein (Northwestern University), „Concluding Discussion”
  • 24. Mai 2022, Fachgespräch mit Dr. Robert Kramm, LMU München (Globalgeschichte)
  • Juni 2022, Archiv-Reise nach Washington DC (Library of Congress, Japanese Censorship Collection), Bruce Gordon Grover
  • 27. Juli 2022, Fachgespräch mit Fuke Takahiro, Universität Kyōto (Institute for Research in Humanities)
  • November 2022 bis Februar 2023, Archivreise nach Japan (Nationale Parlamentsbibliothek), Bruce Gordon Grover
  • 28. Februar 2023, Fachgespräch mit Itō Takao (Sōka daigaku) und Kawaguchi Yūichi (Sōka daigaku)
  • 18. August 2023, Präsentation von Zwischenergebnissen auf der Tagung der European Association for Japanese Studies in Gent, Belgien, Bruce Gordon Grover und Hans Martin Krämer
  • Juni 2024 (geplant), Abschlusstagung unter dem Titel „Mass Culture and the Vanguard in Interwar Japan: Left-Wing Social Reform Thought and Practice Between World War I and the Fascist Period“

Veröffentlichungen

  • Knaudt, Till; Krämer, Hans Martin (2017): „Politische Agitation und Sozialreform im Alltag: Das ‚Settlement‘ der Universität Tōkyō in Shitamachi“. In: Köhn, Stephan; Weber, Chantal; Elis, Volker (Hrsg.): Tōkyō in den zwanziger Jahren. Experimentierfeld einer anderen Moderne? Wiesbaden: Harrassowitz, S. 241–259.

 

 

Zuletzt bearbeitet von:: bbsd
Letzte Änderung: 08.03.2024
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