„Sie können alles sagen!“ Erinnerungen an Dr. Wilfried Spaar

Wir waren eine Gruppe von 24 Studierenden, die sich im Wintersemester 1996/1997 in der Akademiestraße einfand, um in einem einjährigen Intensiv-Sprachkurs, dem Propädeutikum, Hochchinesisch zu lernen. Unser Lehrbuch hieß Practical Chinese Reader, genannt „PCR“. Die grünen Bände mit Geschichten von Palanka, Gubo und Ding Yun begleiteten uns zwei Semester lang, nur kurz unterbrochen von einem vierwöchigen Pinyin-Schnelllesekurs, in dem wir zügig noch ausgefallener parlieren lernten. Neben Berufen wie laoshi 老师 und gongchengshi 工程师 – Tätigkeiten, die in unseren vorangegangenen Übungsdialogen in Ermangelung eines breiteren Wortschatzes wahlweise unsere mama 妈妈, unser baba 爸爸 oder aber ein:e pengyou 朋友 ausübten – waren wir nun selbst zu Spezialist:innen geworden. „Wo shi Bakelai yinhang de zhuanjia,“ ich bin ein:e Expert:in der Barclays-Bank, stellten wir uns im Kreise unserer Kommiliton:innen nun mit leichtem Befremden vor. Dr. Spaar – von uns immer nur Herr Spaar genannt – behielt auch bei den originellsten Dialogen stets die Fassung. Er begleitete uns durchgängig durch dieses uns manchmal endlos lang erscheinende Jahr: die vierte Stunde eines jeden Unterrichtstags gehörte ihm.

Mit ernsthaftem Blick und leicht geneigtem Kopf ging Herr Spaar Tag für Tag mit uns die wichtigsten Sätze des Lektionstextes und die dazugehörige Vokabelliste durch und füllte – die linke Hand meist in der Hosentasche vergraben – die Tafel mit den wohl schönsten Schriftzeichen. Ohne dass er je autoritär wurde, wussten wir sofort: mit Herrn Spaar ist nicht zu spaßen, wenn es um linguistische Feinheiten ging. Wer sich nicht korrekt auszudrücken vermochte, wurde unverzüglich auf Aussprachefehler und grammatische Inkorrektheiten hingewiesen. In den letzten Minuten seines Unterrichts blieb stets Raum für offene Fragen. Wer jedoch ansetzte mit „Kann man auch sagen…“ wurde jäh unterbrochen und in Kenntnis gesetzt: „Sie können alles sagen!“ – gemeint war: Sie können selbstverständlich Wörter nach Belieben aneinanderreihen und mündlich vortragen. Das bedeutete jedoch noch lange nicht, dass es sich dabei um „grammatisch wohlgeformte“ Sätze handelte.

So begriffen wir schnell, dass es beim Erlernen der chinesischen Sprache vor allem auf Genauigkeit ankam. Wir erfuhren, dass es sich bei lan 蓝 nicht einfach nur um die Farbe „Blau“ handelte, sondern um die Indigopflanze Polygonum tinctorium; dass es Schriftzeichen gab, für die aufgrund ihrer Komplexität keine Druckvorlage existierte und die daher handschriftlich in das Lehrbuch eingetragen werden mussten, wie z.B. das Verb, das die Tätigkeit des Ausrollens des Jiaozi-Teiges beschrieb. Als wir uns in einer Lektion einmal mit Metrik, Lyrik und poetischen Zäsuren beschäftigten, wurden wir über die Besonderheit der Blüte der Prunus mume, meihua 梅花, aufgeklärt, einem Rosengewächs, das jedoch nicht der Pflaume, sondern einer Aprikosenart zuzuordnen ist, wie uns detailreich erklärt wurde. Wer später, im Vorbereitungskurs auf die Magister-Übersetzungsklausur, nur das „große Rote“ anschleppte, wurde sogleich auf dessen – und die eigenen – Unzulänglichkeiten hingewiesen, inklusive einer kurzen Einführung in die zahlreichen Nachschlagewerke, die im sogenannten REF-Raum zu finden waren. Hatte man sich in einer (Probe-)Klausur einmal völlig verrannt, so konnte man durchaus den Kommentar „Setzen, sechs!“ am Rande seines Arbeitsblattes wiederfinden – wie gewohnt im klaren Spaar‘schen Schriftbild.

Präzise Bezeichnungen, kurze Exkurse zu botanischen Begriffen, hin und wieder ein süffisanter Kommentar, wenn das Richtungskomplement (beliebig auszutauschen mit: Aspektpartikel, Scharnierwort, Subordinationspartikel) nicht korrekt eingesetzt oder aber ein:e Kommiliton:in aufgrund des deutlichen dialektalen Markers als Rheinländer:in entlarvt wurde, aber auch zahlreiche Berichte von seinen Erlebnissen als Reiseleiter und über seine Exkursionen nach Tibet – all dies machte die vierte Stunde aus, die in unserem Stundenplan „Grammatikwiederholung“ hieß und doch so viel mehr war. So verwundert es nicht, dass die Nachricht über Herrn Spaars Tod bei zahlreichen der damaligen Kommiliton:innen ein großes Bedauern, ja geradezu Bestürzung auslöste. „Prägend“ ist der Begriff, der wohl am häufigsten fiel, als wir uns über Emails und Kurznachrichten austauschten.

Wer erinnert sich nicht an sein abgedunkeltes, rauchverhangenes Büro, dessen Wände Thangkas schmückten und an dessen Tür man immer klopfen konnte, wenn man eine Frage zu einer Übersetzung oder einem Fachbegriff hatte? Wenn man ihn auf dem Weg zur OEG oder in seiner Raucherpause auf dem Hof antraf, plauderte er gerne, und als die ersten Kommiliton:innen ihren Nachwuchs mit ins Institut brachten, lernte man Herrn Spaar, den Kinderfreund, kennen. Dass Herr Spaar zeitweise mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte, war in einem kleinen Institut wie dem der Sinologie nicht zu übersehen. Als er nach seiner Pensionierung noch im Konfuzius-Institut unterrichtete und an einem Grammatik-Lehrwerk arbeitete, schien er jedoch entspannter denn je. Umso trauriger, dass er diese Zeit nicht weiter genießen konnte. Bleibt für uns, die wir immer noch mit der chinesischen Sprache arbeiten, die Erkenntnis: wir können inzwischen tatsächlich ziemlich viel sagen, grammatisch wohlgeformt sogar – nur leider nicht mehr zu ihm.

 

Dr. Petra Thiel

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Letzte Änderung: 25.02.2021
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