Drei Bücher über drei Personen an mehr als drei Orten

In diesem Jahr starb Michael Hamburger zwanzig Jahre nach seiner Mutter und vierzig Jahre nach seinem Vater. Seine Mutter wurde in Berlin geboren, sein Vater in Schlesien, er selbst in Shanghai – alle drei starben in Deutschland. Sie lebten in China, Polen, in der Schweiz und in anderen Ländern.
 
 
Berlin
 
Ursula Kuczynski war die Tochter eines Ökonomen und Schwester des Sozialwissenschaftlers Jürgen Kuczynski, die Familie lebte in Zehlendorf, das später Teil von Berlin wurde. Die ganze Familie interessierte sich für Bücher und die Tochter arbeitete in Buchhandlungen und beim Ullstein Verlag. In dieser Zeit lernte sie den Architekturstudenten Rudolf Hamburger kennen, der aus einer reichen schlesischen Familie stammte, auch er hatte einen Bruder, der Professor wurde. Rudolf, der auch Rudi und Rolf genannt wurde, beendete sein Studium als die Arbeitsmarktlage wegen der Weltwirtschaftskrise besonders schlecht war.
 
 
Shanghai
 
Durch Vermittlung seines Freundes Dr. Woidt, der in Shanghai arbeitete, bekam auch der junge Architekt dort eine Stelle, heiratete Ursula und fuhr mit ihr mit dem Zug über Moskau in den Fernen Osten. Sie war zu der Zeit schon schwanger und so wurde im Februar 1931 der kleine Michael in Shanghai geboren. Schon einige Monate davor hatte die Mutter die amerikanische Journalistin Agnes Smedley und den deutschen Spion Richard Sorge getroffen, die beide vorher in Berlin gelebt hatten. In den folgenden Jahren lernte Ursula auch Song Qingling und Lu Xun kennen. Auch die Journalisten Egon Erwin Kisch und Rosi Gräfenberg-Ullstein und der Sinologe H. Wilhelm tauchten in dieser Zeit dort auf.
 
 
Shenyang
 
Durch Sorge wurde auch Ursula zu einer Agentin, wobei die Familienidylle eine gute Tarnung war. Nach einer mehrmonatigen Schulung (vor allem: Funken) in  der Sowjetunion schickte man sie nach Shenyang in Nordostchina; sie trennte sich von ihrem Mann, nahm aber den Sohn mit. Nach einem Jahr in dem die Lage für sie im japanisch besetzten Shenyang immer gefährlicher wurde, kehrte sie nach Moskau zurück.
 
 
Warschau
 
Nun wurde ihr eine Aufgabe in Polen zugeteilt, wobei nun ihr Mann auch dorthin kam und für den sowjetischen Militärgeheimdienst arbeitete. In Polen wurde noch eine Tochter geboren und bald darauf ging die ganze Familie in die Schweiz.
Nun trennte sich das Ehepaar endgültig und der Mann übernahm andere Aufgaben für die Sowjetunion. Die Mutter und die Kinder blieben zunächst in der Schweiz, dann lernte sie einen Engländer kennen, heiratete diesen und sie gingen zu viert nach England. Von nun an hiess sie offiziell Beurton und bekam einen weiteren Sohn. Nach Kriegsende und aufgrund der wachsenden Gefahr ihrer Enttarnung ging die Familie nach Gründung der DDR dort hin.
Rudolf war schon während seiner Agententätigkeit verhaftet worden und wurde in der Sowjetunion in ein Lager gesteckt. Nach der Freilassung konnte er nicht mehr in seine schlesische Heimat, die nun zu Polen gehörte, zurückkehren und landete so auch in der DDR. Er arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Architekt vor allem in Sachsen und Sachsen-Anhalt, während Ursula mit ihrem neuen Mann in Berlin lebte.  
 
 
Berlin
 
In der DDR wurde die Agentin zur Autorin und benutzte hierfür das Pseudonym Ruth Werner.  Ein Vierteljahrhundert schrieb sie nicht über ihr eigenes Leben, doch dann wurde 1977 nach einem langen komplizierten Genehmigungsverfahren ihr Buch Sonjas Rapport veröffentlicht, wobei Sonja in China ihr Deckname im Agentenring war. 
Das Buch war eines der erfolgreichsten Bücher in der DDR-Geschichte und wurde in viele Sprachen übersetzt. Eine ihrer Schwestern produzierte eine englische Übersetzung; eine Chinesin, die das Buch bei einem DDR-Besuch kaufte, fertigte eine chinesische Übersetzung an: Diehai yijiu.
 
Rudolf Hamburger starb 1980, über sein früheres Leben wurde in der DDR nichts weiter bekannt, nur als Architekt war er prominent. Die Gattin und der Rest ihrer Familie erlebten die deutsche Vereinigung. Dann starben die beiden Ehepartner, nach der Jahrhundertwende die Tochter und im Januar 2020 Michael.
 
 
Bücher
 
In den letzten zwei Jahrzehnten erschienen mehrere Bücher, die das Leben der Familie aus verschiedenen Perspektiven beschrieben.
Im Jahr 2006 erschien in Berlin eine etwas längere Neuauflage des Buches von 1977, das nicht nur viele Photographien, sondern auch ein längeres Gespräch mit allen drei Kindern enthielt – Titel und Verlag waren gleich geblieben.
 
Danach beschloss Sohn Michael sich noch einmal konzentriert mit seinem lange verstorbenen Vater zu beschäftigen. Dieser hatte zu DDR-Zeiten ein autobiographisches Manuskript verfasst, das aber solange er lebte nicht veröffentlicht werden konnte, das Ende der DDR erlebte er ja nicht.
2013 erschien in München im Namen des Vaters (und herausgegeben vom Sohn) der Band
Zehn Jahre Lager: als deutscher Kommunist im sowjetischen Gulag; ein Bericht.
Auch dieser Band enthielt einige Bilder und ein Nachwort des Sohnes, das auf den Hintergrund des Textes und das ganze Leben von Rudolf Hamburger einging.
 
Lange zuvor war ein vollkommen anderes Buch erschienen, das den Titel Krieg im Äther trug und von H. Schafranek und J. Tuchel zusammengestellt worden war. (Wien, 2004)
In einem Beitrag darin beschäftigte sich P. Erler mit R. Hamburgers Zeit in China, Persien und in der Sowjetunion. Besonders interessant dabei war die Erwähnung der Tatsache dass Hamburger in der DDR auch für die Staatssicherheit gearbeitet hatte; er wurde sogar in die BRD geschickt, um seinen alten Freund Dr. Woidt zu einer Zusammenarbeit zu bewegen, dieser lehnte offenbar ab. (S.185)
 
Dr. Thomas Kampen  
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Letzte Änderung: 31.07.2020
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