In Memoriam

Es sind die Blitzlichter der Erinnerung. Sie überfallen unsere Gedanken, ertönen als fremde Stimmen im Kopf, erinnern an den erhobenen Zeigefinger als Warnung oder ermutigen zu einem eingeschlagenen Weg durch zustimmendes Nicken eines imaginierten Anderen – so eindrucksvoll als verspüre man den Zug der Bewegung. Ein Blitzen zuckt durch die Gedanken; zaubert ein trauriges Lächeln aufs Gesicht oder führt zum gedankenverlorenen Kopfschütteln. Über meine Studienzeit an der Heidelberger Sinologie habe ich unglaublich viele Eindrücke von unserem Professor Dr. Rudolf G. Wagner – kurz RW – eingesammelt: „Warum hängen Sie nicht am Fisch?“ – Die provokative Verwunderung darüber, dass ein erhaltenes Stipendium nicht für alle – und damit meinte er für ihn – sichtbar am zappelnden Fisch im alten Flur hing. „Wer hat Ihnen das erlaubt“ – war die durchaus übergriffige Frage als ich aufgrund eines verpassten Fluges einmal verspätet aus London in den Unterricht zur Begriffsgeschichte kam. Obgleich die Erkenntnis über den eigenen Lernerfolg oft nur verzögert einsetzte, so erinnere ich mich heute noch an Unterrichtsdebatten über Subkommentare von Mönchen zu buddhistischen Texten oder die sozialgeschichtliche Veränderung von Ming- zu Qing-zeitlichen Moralbüchern und meine eine neue Lebenserkenntnis gewonnen zu haben. Es sind diese kleinen Gelenkstücke, die kleinen Sätze, sie schleichen sich nur allzu gern in den (Lehr-)Alltag ein: „Da verlieren Sie ja Ihre Jugend bei“, war in meinem Fall die Antwort auf einen Vorschlag zu eben diesen Moralbüchern. Am häufigsten begegnet mir die Aufforderungen: „Machen Sie mal ein Argument“, gefolgt von: „Schreiben Sie das mal zusammen“; dies höre ich mich schon selbst sagen. Die arbeitsintensive Kunst des wuwei hätte man schon meistern müssen, um bei dem Großmeister nichts zu lernen. Versiert in so vielen Bereichen mit so viel Engagement für die Suchenden, Verwirrten, Verbissenen sich auf nahezu jedes einzelne Gespräch in den Zwischenräumen: am Kopierer, in der Bibliothek, im Flur und zu Un-Zeiten einzulassen, riss einen mit – wie das Blitzlicht der Erinnerung uns aus den grauen Alltagsgedanken.

RW ist mit seiner ganzen Persönlichkeit eines Gelehrten für mich die Verkörperung eines Geisteswissenschaftlers: beeindruckend. Im wahrsten Sinne des Wortes hat er uns mit den Eindrücken der Bewunderung und Verwunderung zurückgelassen. In meinen Blitzen der Erinnerung wird er auch in Zukunft lebendig bleiben.

Josie-Marie Perkuhn

Zuletzt bearbeitet von:
Letzte Änderung: 17.12.2019
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