Newsletter April 2015 Nr. 81

INHALT

Xu Lizhi: Gedichte eines Wanderarbeiters

Dass hinter "Made in China" oftmals grausame Arbeitsverhältnisse stecken, ist weithin bekannt. Trotzdem sind wir bei unseren Kaufentscheidungen immernoch Weltmeister im Verdrängen. Die Gedichte eines jungen chinesischen Wanderarbeiters, der sich im vergangenen Jahr das Leben nahm, nagen an unserem schlechten Gewissen.

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Frühlingsgefühle: Chinese Communist Party’s Second Spring

Versmogte Metropolen, strapazierte Böden und verunreinigte Flüsse, belastete Lebensmittel, Zensur und Korruption: Das wirtschaftliche Wachstum stellt China vor soziale Herausforderungen und die Partei muss einmal mehr ihre Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Josie-Marie Perkuhn fragt sich: Ist das Ende der Öffnung eingeleitet?

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Eine wenig bekannte deutschsprachige Chinazeitschrift: Aktuelle China-Information

Mit der DDR verschwanden auch Institutionen wie die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED, das Institut für Internationale Arbeiterbewegung und der Problemrat für aktuelle Chinaforschung. Diese Drei haben eines gemeinsam: Sie waren die Herausgeber der Zeitschrift Aktuelle China-Information.

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Fachdidaktikschulung: China an die Schulen!

An den deutschen Schulen fristet China noch ein kümmerliches Dasein. Die Initiative "China an die Schulen!" versucht nun schon seit Längerem, dies zu ändern. Im Februar bereitete eine Fachdidaktikschulung das SHAN-Schulteam auf ihren Einsatz an den Schulen vor: Petra Müller vom Schiller-Gymnasium in Marbach zeigte, wie moderner Chinesischunterricht funktioniert.

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Fotowettbewerb: Zeigen Sie uns Chinas und Taiwans schönste Seiten!

Zum Schluss sind Sie gefragt: SHAN sucht ihre besten Schnappschüsse aus China und Taiwan. Die Gewinnerfotos werden bei der diesjährigen Ehemaligenfeier ausgestellt und prämiert.

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Xu Lizhi: Gedichte eines Wanderarbeiters

Luxuskaufhäuser, modernste Transportsysteme, glitzernde Wolkenkratzer: Chinesische Großstädte scheinen Sinnbild dessen zu sein, was wir unter Kapitalismus verstehen. Die Schattenseite dieser Entwicklung gerät dabei häufig in Vergessenheit. Der Selbstmord eines Wanderarbeiters erlangte im vergangenen  Jahr dennoch mediale Aufmerksamkeit: In gedichtform verfasste der bei seinem Tod 24-jährige Xu Lizhi einen Abschiedsbrief, der einen Einblick in die gefühlte Ausweglosigkeit der Wanderarbeiter gewährt. Stanley Ong Gieshen Setiawan hat drei der Gedichte des jungen Mannes für uns ins Deutsche übersetzt.

 


Ein Gedicht, in dem Xu Lizhi seine Verzweiflung bildhaft schildert:

《我咽下一枚铁做的月亮……》

我咽下一枚铁做的月亮

他们管它叫做螺丝

我咽下这工业的废水,失业的订单

那些低于机台的青春早早夭亡

我咽下奔波,咽下流离失所

咽下人行天桥,咽下长满水锈的生活

我再咽不下了

所有我曾经咽下的现在都从喉咙汹涌而出

在祖国的领土上铺成一首

耻辱的诗

"Ich habe einen eisernen Mond heruntergeschluckt"

Ich habe einen eisernen Mond heruntergeschluckt
Sie nennen ihn eine Schraube
Ich habe die Abwässer dieser Industrie heruntergeschluckt, und die Bescheide für meine Arbeitslosigkeit
Früh stirbt die Jugend, weniger wert als eine Maschine
Ich habe das hektische Treiben heruntergeschluckt, habe Armut und Obdachlosigkeit heruntergeschluckt
habe Fußgängerbrücken heruntergeschluckt, habe ein Leben voller Rost heruntergeschluckt
Ich kann nicht mehr herunterschlucken
Alles, was ich geschluckt hatte, ist jetzt aus meiner Kehle herausgesprudelt,
auf dem Boden des Mutterlandes hat es sich ausgebreitet und ist zu
einem Gedicht der Schande geworden

 


Das von vielen als „Abschiedsbrief“ gedeutete Gedicht:

我弥留之际

我想再看一眼大海,目睹我半生的泪水有多汪洋
我想再爬一爬高高的山头,试着把丢失的灵魂喊回来
我还想摸一摸天空,碰一碰那抹轻轻的蓝可是这些我都办不到了,我就要离开这个世界了
所有听说过我的人们啊
不必为我的离开感到惊讶
更不必叹息,或者悲伤
我来时很好,去时,也很好
——许立志

Einmal noch möchte ich das Meer sehen, mit meinen eigenen Augen das Meer von Tränen, die ich ein halbes Leben lang vergossen habe, sehen
Einmal noch möchte ich den hohen Berg erklimmen, und versuchen, verlorene Geister zurückzurufen
Einmal noch möchte ich den Himmel streicheln, das helle Blau berühren, doch all das kann ich nicht mehr tun, ich möchte einfach diese Welt verlassen
All' ihr Leute die ihr von mir gehört habt,
ihr dürft euch nicht über meinen Abgang erschrecken,
mehr noch, ihr dürft nicht seufzen oder trauern,
Meine Zeit zu kommen ist gut, meine Zeit zu gehen- ist auch gut

 

Hier beschreibt der junge Wanderarbeiter seine Unterkunft:

「出租屋」  

十平米左右的空间

局促,潮湿,终年不见天日

我在这里吃饭,睡觉,拉屎,思考

咳嗽,偏头痛,生老,病不死

昏黄的灯光下我一再发呆,傻笑

来回踱步,低声唱歌,阅读,写诗

每当我打开窗户或者柴门

我都像一位死者

把棺材盖,缓缓推开

Um die 10m² Raum.
Eng, nass, das ganze Jahr keinen einzigen Blick auf die Sonne
Hier esse, schlafe, scheiße, denke ich,
huste, bekomme Migräne, altere, werde krank und sterbe doch nicht
Im Dämmerlicht der Lampe starre ich in die Leere, und lache dumm
gehe umher, singe leise, lese, schreibe Gedichte
Jedes Mal wenn ich das Fenster oder die Tür öffne  
Gleiche ich einem Toten
der seinen Sargdeckel ganz sachte anhebt

 

 

Stanley Ong Gieshen Setiawan

 

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Frühlingsgefühle: Chinese Communist Party’s Second Spring

In den letzten Jahrzehnten begann ein Gros aller Artikel zu China und dem chinesischen Aufstieg mit der 1978 eingeleiteten Reform- und Öffnungspolitik. Deng Xiaoping hatte sich nach ideologischen Auseinandersetzungen über die Liberalisierung des Wirtschaftsmodells durchgesetzt. Seine Politik der ökonomischen Öffnung mit dem klaren Entwicklungsdiktat gilt seither als Kernstück der chinesischen Erfolgsgeschichte. Dem wirtschaftlichen Wachstum folgen die sozialen Herausforderungen auf dem Fuße. Ist das Ende der liberalen Reformen erreicht? Das politische China trägt an den prallen Früchten des Erfolgs schwer: dampfende Kessel, rußschwarze Zechen und rauchige Fabriken säumen versmogte Metropolen; strapazierte Böden und verunreinigte Flüsse bringen belastete Lebensmittel auf den Speiseplan; unangenehme Meinungen werden verboten und Medieninhalte zensiert. Wo es um Privatisierung von Gewinnen geht, wittert manch einer korrupte Geschäfte. Die Gerüchteküche des Volkes brodelt, während aus dem Sud der Rauch bis weit in die Spitzen der Partei hineinzieht. Wie wird die Partei erneut ihre Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellen? Wird sie an der verabreichten Droge genesen oder degenerieren?

 

Ist das Ende der Öffnung eingeleitet?

Der rasante Aufstieg Chinas hat dem Land auf der internationalen Bühne neben Ruhm und Anerkennung auch die Rolle einer verantwortungsvollen Großmacht eingebracht. Über die 1990er Jahre hinweg hat Chinas Wirtschafts- und Währungssystem durch seine instrumentelle Anpassungsfähigkeit ökonomische Erfolge mit zweistelligen Wachstumsraten produziert. Mit umfassenden Restrukturierungen des chinesischen Bankensektors gelang der Anschluss zur internationalen Fiskalwirtschaft. Die Maßnahmen der Reform- und Öffnungspolitik führten jedoch auch zu einer weitreichenden internationalen Interdependenz, die wiederum Forderungen nach mehr Verantwortung laut werden lassen. Und zwar auf beiden Seiten: Einerseits verlangt China, sich in die internationalen Belange gestaltend einzumischen und führende Verantwortung zu übernehmen. Andererseits wird von China abverlangt, globale Verpflichtungen einzugehen und internationale Kosten mitzutragen. Zu Chinas Verantwortung gehört auch die beschworene staatliche Stabilität. Der Währungskampf und die darauf folgende Finanzkrise 2008 haben zudem den Konsens über den friedlichen Aufstieg, die friedliche Entwicklung Chinas auf eine starke Probe gestellt. Außenpolitisch hingegen stellt man die gemäßigte (westliche) Sozialisierung infrage: Zwar sprechen der Beitritt zur Welthandelsorganisation, die unterstützende Fürsprache zur Friedenssicherung oder die vermittelnde Rolle bei den 6-Parteien-Gesprächen dafür. Das Konfliktpotential im Südchinesischen Meer, die Inselstreitigkeiten mit Japan und konkurrierende Institutionen in der Entwicklungszusammenarbeit weisen hingegen auf alternative Vorstellungen in regionalen sowie internationalen Beziehungen hin. Chinas vagen Motivationen und die neu bemessenen Fähigkeiten lösen gleichermaßen Begehrlichkeiten und Befürchtungen aus. Innenpolitisch befürchtet man den Verrat der sozialistischen Grundwerte. Was für den einen also die positiven Früchte der Öffnung Chinas zur Welt darstellt, mag für den anderen dem faulen Kern im Inneren gleichkommen. Gerade durch den gewinnbringenden Handel und den zunehmend transnational vernetzten sozialen Kontakten entsteht eine gesellschaftlich-elitäre Mittelschicht. Sie ist es, die ihren aufgeklärten Tribut einfordert. Ein ideologischer Deutungskampf um ihre Legitimation und anhaltende‚ stillschweigende Unterstützung wird geführt – Wie viel Öffnung verträgt Chinas Gesellschaft?

Schon seit den ersten Reformen traten Herausforderungen sozialer und politischer Art in den Blick der ‚eingehegten Öffentlichkeit‘. Öffnung bringt Wachstum. Wachstum bringt Wachstumsgewinner ebenso wie Wachstumsverlierer. Wachstum bringt Arbeit und Arbeitslosigkeit; Wachstum bringt Güterverteilung und Verteilungsungerechtigkeiten. Wachstum bringt soziale Unzufriedenheit und natürliche Umweltprobleme. Genau diese latente Unzufriedenheit der stillen Mehrheitsmitte ist es, auf die eine verantwortungsbewusste Führung reagieren muss. Die stille Mehrheit „the silent majority“ ist nicht auf ein paar Hundert oder Tausend ver-bildete Studierende einzugrenzen; sie ist der Träger des Aufstiegs und sie stellt Forderungen. Sie fordert auf dem Rücken der politischen Sicherheit und staatlichen Stabilität die Unversehrtheit des eigenen Selbst, eine gesunde Lebensgrundlage für sich und ihre Nachkommenschaft, sie verlangt nach einem sozialistischen Versorgungssystem für Ältere und Kinder. Die stumme Bildungs- und Wirtschaftsmitte fordert eine aufgeklärte Transparenz von ihrer Führung. Natürlich will keiner den Lebensstandard aufgeben, der ihr/ihm in den letzten drei Jahrzehnten zuteilwurde. Wieso sollte man auch, ist dieser alles in allem aus eigener Kraft hervorgegangen. Und so fordert diese stille Mitte eine ambivalente Aufgeklärtheit; eine mit chinesischen Charakteristika. Wie viel Gesellschaft verträgt Chinas Öffnung?

Die 1979/1980 eingeleitete Ein-Kind-Politik zeigt ihre positive Wirkung als Instrument im Kampf gegen Ernährungsknappheit. Sie verstärkt jedoch die Verkehrungseffekte der Gesellschaftspyramide und droht die nach 80er-Generation mit den Versorgungspflichten den Jüngeren und Älteren gegenüber zu erdrücken. Zusätzlich zur kindlichen Fürsorgepflicht um die Eltern und zumeist lebenden Groß- und sogar Urgroßeltern soll auch der Nachwuchs bestens versorgt und gefördert werden. So ist es nicht verwunderlich, dass im Kampf gegen wesentliche Schmuggelgüter nicht etwa Drogen den Rang anführen, sondern Baby-Milchpulver. Wer jüngst durch die Transitabfertigung Hong Kongs eingereist ist, staunte sicherlich nicht schlecht, ob der verstärkten Sicherheitskontrollen. Hat man die Kleinkinder gesund durch die ersten Lebensjahre gebracht, werden die Sorgen über Kindergartenwahl und Ausbildungsgang nicht weniger. Eine gute schulische Ausbildung ist nach wie vor der Schlüssel zum Erfolg. Nur wie? Zwar mag die Beurteilung, was eine gute Ausbildung beinhaltet im Zielkonflikt zwischen chinesischer Klassik mit sozialistischer Grundausrichtung und westlicher Talentförderung, noch lange auf eine Bewährungsprobe gestellt sein. Ob nun der Fokus auf die kulturellen Wurzeln der eigenen Sprache oder der Erwerb internationaler Sprachen liegt, in beiden Fällen ist die Ausbildung kostspielig. Eine gewünschte Lockerung verspricht die Last nicht zu lindern, sondern zu verstärken. Wie viel Öffnung fordert Chinas Gesellschaft?

Komplexe Herausforderungen brauchen komplexe gesellschaftliche Antworten. Die komplexen Herausforderungen sind nicht mehr mit der einfachen Formel ‚mehr Wachstum, mehr Wohlstand, mehr Legitimation für die Kommunistische Partei‘ zu erreichen. Der stille Mittelstand legt postmoderne Werte in die Waagschale. Ist die Zeit der Problemlösung durch Entwicklungspolitik vorbei? Umweltverschmutzung und verrußte Luft, lassen die geschwächte Lunge chronisch erkranken. Das kulturelle Herausstellungsmerkmal der sportlichen Aktivität im Freien ist gesundheitsgefährdend und die steigenden Zahlen von Kinderkrankheiten erregen die besorgten (Ge-)Mü(t)ter. Maßnahmen für mehr Reisefreiheit, mehr Freizügigkeit und eine Lockerung der Ein-Kind-Politik sind bedeutend – es sind bedeutende Tropfen auf den brennenden Stein. Der Weg führt in die Richtung der friedlichen gesellschaftlichen Kompromisse. Werden diese kleinen Schritte aber bei einem derart schnellen Fortgang langfristig ausreichen. Es geht um Interessenkollision und Interessenabwägung von post-modernen Werten im klassischen Sinne. Wie offen für Chinas Gesellschaft zeigt sich die Reformpolitik?

Die Reformfreudigkeit Chinas ist unerschütterlich. Daran besteht kein Zweifel. Wurde das ökonomische Entwicklungsmandat von der Politik überholt oder erleben wir ein balanciertes Kopf an Kopf rennen? Der Anti-Korruptionskampf bis in die eigenen Reihen des politischen Machtzentrums, die verordnete sozialistische Grunderziehung in der frühkindlichen Bildung, das Verdrängen westlicher Werte, wie die Verurteilung des abendländischen Weihnachtsfestes, oder die Zugangsbeschränkung sozialer Medien und Webdienste westlicher Anbieter, das alles zusammen genommen, lässt keinen Zweifel daran, welcher Reiter gerade die Nase vorn hat. Der ideologisch- politische Arm ist um einige Längen in Führung gegangen. Das ökonomische Wachstumsdiktat räumt Grenzen ein. Seit dem letzten Fünfjahresplan zwitschern die Spatzen lauthals von den Dächern: Die Wachstumsraten müssen sinken. Unter dem dauerhaften Bluthochdruck drohen die Leitbahnen zu verkalken, Ruß steigt auf. Die Gesellschaft leidet, die Immobilienblase droht zu platzen und das Konzept des nachhaltigen Wachstums erreicht gar die bürokratische Schaltzentrale. Doch diese konkurrierenden Interessen brauchen übergeordnete Interessenabwägung, sie brauchen politische Führung. Bevor die Reformen aus dem Ruder zu laufen drohen, versammelt man sich schnell hinter dem Kapitän und wartet. Man wartet ab, wer als nächstes das ideologische Schiff verlässt. Wie viel plurale Öffnung verträgt die neue Reformpolitik?

Stehen wir an der Schwelle zur politischen Ideologisierung? Worauf weist die Machtergreifung Xi Jinpings hin? Klar ist, die politische Führung wird stärker, zentraler und sozialistischer – in allen seinen Bedeutungen. Ganz Mutige ziehen schon vergleiche zur Proletarischen Kulturrevolution 1966/1967. Von der sind wir weit entfernt. Der staatsführende Apparat der Kommunistischen Partei Chinas hat sich in dem letzten Jahrhundert durch zwei zusammenhängende Charakteristika ausgezeichnet: durch die Machtbeschränkung von politischen Persönlichkeiten zwecks systemischer Regimestabilität zum einen und die Anpassungsfähigkeit zur gesellschafts-politischen Machtakkumulation und Legitimation zum anderen. So kann die politisch geführte Antikorruptionskampagne in den eigenen Reihen der KP auch als eine systemimmanente Strategie der Regimestabilität erachtet werden. Im Sinne des Rechtstaat gilt im Zweifel für den Angeklagten. Vor dem Hintergrund der neu entflammten Kapitalismuskritik, ist der Lösungsansatz für Chinas politische und gesellschaftliche Herausforderungen nicht in der blinden Übernahme westlich-kapitalistischer Entwicklung zur Behebung post-moderner Interessenskonflikte gefunden. Wie offen bleibt die Führung für politische Reformisten?

Der öffentliche Dissens mit der politischen Führung Hu Jintaos ist neu und erschreckend zugleich. Der pluralistische Führungsstil habe zu viele sektorale Interessengruppen, machtbasierte Netzwerke von einflussreichen LobbyistInnen begünstigt. Die Emporgestiegenen müssen nun mühsam und rapide zum Frühling von der ‚starken Hand’ Xis eingezäunt, gemäht und gestutzt werden, bevor Wildwuchs die klare sozialistische Landschaft unkenntlich macht. Das ‚gemeine Volk‘ – (die Laobaixing) begrüßt dies. Und Xi wird zu ihrem Sympathieträger erkoren. Ein Mann, der sich für die Interessen der stillen Mitte zu begeistern sucht und seine Schäfchen auf den Weg der verloren gegangenen sozialistischen Werte zurückführt. Ein riskantes Unterfangen. In einem anderen Licht präsentieren sich die Interpretationen von JournalistInnen und AkademikerInnen, sie sich ein ebenso hartes Rennen um die schnellste Veröffentlichung zur Einschätzung zur neuen politischen Lage Chinas liefern. Hier sieht man in dem rot gefärbten Wind den Anfang vom Ende. Die aktuelle politische Kampagne weise auf das baldige Zusammenbrechen der Partei hin. Wie stark wandelt sich die Volksrepublik und was passiert hinter den Kulissen der KP unter der Xis Führung? Mit Sicherheit ist er der stärkste, charismatischste Führer, der seit Mao die Geschicke seines Landes lenkt. Ein aufstrebendes Land, das seit über 30 Jahren dabei ist, sich im Kontext einer fünftausend jährigen Geschichte neu zu definieren, gedrängt von einer weltoffenen Gesellschaft und einer vergesellschafteten Weltöffentlichkeit. Endet hier die Öffnung der Reformen oder reformiert sich die Öffnung?

Genauso wenig wie das Zusammenbrechen des parteilichen Herrschaftsanspruches anzunehmen ist, verbirgt sich ein Ende des autokratischen Regierungssystems. Der „Kampf“ um das bessere System ist mit 1990 und dem Zerfall der Sowjetunion nicht aus den Köpfen verschwunden. China betont immer wieder die kulturelle Eigenartigkeit des Regierungssystems. Natürlich will man nicht mit dem gescheiterten sowjetischen Sozialismus verglichen werden, der Umkehrschluss dem Westen ergeben zu sein, ist ebenso falsch. Es werden und wurden meist wirtschaftlich erfolgreiche Instrumente westlicher Staaten aufgenommen, der westlich-demokratische Faktor wird eher negiert. Ob das autokratische System Chinas zukünftig eine vergleichbare ökonomische Performanz der letzten Dekaden hält, ist ungewiss. Eine umfassende Transition des Regierungssystems wartet jedoch gewiss nicht am entfernten Ende des Tunnels. Selten war die alleinige sozialistische Führung der einen Partei Chinas für das bevölkerungsreichste Land unangefochtener. Es bleibt bei Chang und Yi: Kein Fortschritt ohne beständigen Wandel – keinen Wandel in der Beständigkeit (der KP). Die aktuelle politische Kampagne ist weniger der Vorbote eines systemischen Zusammenbruchs, denn der dringende Tatverdacht für das Aufbrechen eines überholten Konsenses, der unter den ökonomisch-pragmatischen Reformern lange bestand. Hinter der politischen Fassade verbirgt sich nicht der Kampf zwischen Autokratie und Demokratie. Es ist auch keine Dichotomie, die sich mit Interessen zwischen Chinesischem Kapitalismus und neomaoistischen Kommunismus pointieren lässt. Die Ausrichtung des wirtschaftlichen Modells nach Guangdong oder Chongqing ist ein Symptom einer sich selbstidentifizierenden Suche. Wir beobachten derzeit ein Ringen um die soziale Konstruktion Chinas. Ein sozialkonstruiertes Selbst, das den Facettenreichtum, die unerträgliche Ambivalenz und die gesellschaftlichen Herausforderungen gleichermaßen adressiert und in eine wegweisende Richtung einbettet. Die Tage der Öffnungspolitik sind noch lange nicht gezählt, nur werden ihre durchlässigen Sonnenstunden mit diesem Frühling nicht wieder ansteigen.

 

 

Josie-Marie Perkuhn

 

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Eine wenig bekannte deutschsprachige Chinazeitschrift: Aktuelle China-Information

Zum 25. Jahrestag des DDR-Endes soll hier eine ungewöhnliche Publikation kurz vorgestellt werden. In den siebziger und achtziger Jahren erschien im Osten Berlins die Aktuelle China-Information. Diese Publikation war im Westen kaum bekannt. Auf den wenigen Exemplaren, die  – zumeist in ostdeutschen und südwestdeutschen Bibliotheken – noch erhalten sind, stehen Vermerke wie „Vertraulich“, „Nur für den Dienstgebrauch“ und „Parteiinternes Material“. (Dies ähnelt den neibu 内部 - Aufdrucken in China.) Außerdem wird auf den Titelseiten der Herausgeber genannt: Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED, Institut für Internationale Arbeiterbewegung, Problemrat für aktuelle Chinaforschung. Diese Institutionen und die Zeitschrift sind mit der DDR untergegangen.

Der Hintergrund der Gründung der Zeitschrift war der sino-sowjetische Konflikt und die Verschlechterung der Beziehungen zwischen der VR China und der DDR in den späten sechziger Jahren. Insgesamt erschienen wohl mehr als achtzig Ausgaben, meist drei bis sechs pro Jahr. Dazu gab es noch eine Reihe mit „Grundsatzdokumenten“.

 

Autoren

Zu den Autoren gehörten die wichtigsten Chinaexperten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands:

Roland Felber

„Zu einigen Tendenzen bei der Bewertung der neusten chinesischen Geschichte in der VR China“ (Heft 24)

„Rückkehr zur historischen Wahrheit oder eine neue Runde der Verfälschung der Geschichte der KP Chinas“ (Heft 43)

„Methodologische Probleme gesellschaftswissenschaftlicher Forschung über die Entwicklung Chinas in der Nach-Mao-Ära“ (Heft 45)

Helmut Peters

„Einige Probleme der wissenschaftlich-theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Maoismus“ (Heft 13)

„Die maoistische KP Chinas seit Beginn der Kampagne zur ‚Verurteilung von Lin Biao und Konfuzius‘“(Heft 16)

„Die Deformierung der Grundlagen des Sozialismus in der VR China“ (Heft 21)

Ralf Moritz (Rolf Max)

„Die gegenwärtige Kampagne auf dem Gebiet der Philosophiegeschichte“ (Heft 11)

„Über das Konzept vom ‚bürgerlichen Recht‘ und seine Rolle in der gegenwärtigen ideologischen Entwicklung der VR China“ (Heft 30)

„Konstanz und Veränderung im Maoismus“ (Heft 32)

„Modernisierung und Traditionen – Zu einigen Aspekten der ideologischen Entwicklung in der VR China“ (Heft 67)

[1974 und 1975 hat der Autor die Bücher  Zum politisch ideologischen Wesen des Maoismus  und  Maoismus und historische Mission der Arbeiterklasse  veröffentlicht.]

Im außenpolitischen Bereich profilierten sich auch:

Bernd Kaufmann

„Die ‚Kulturrevolution‘ und Fragen der außenpolitischen Strategie und Taktik der chinesischen Führung“ (Heft 16)

„Entwicklungstendenzen der chinesischen Außenpolitik in den achtziger Jahren“ (Heft 45)

Sylvia-Yvonne Schirrow, später Sylvia-Yvonne Kaufmann (die - noch später - Europapolitikerin der PDS bzw. SPD wurde)

„Aktuelle Tendenzen der japanischen Außenpolitik und der japanisch-chinesischen Beziehungen“ (Heft 56)

 

Dissertationen

Von den meisten der Obengenannten sind auch Dissertationen und andere Hochschulschriften bekannt:

Felber, Roland: Die Entwicklung der Austauschverhältnisse im alten China vom Ende des 8. Jh. bis zum Beginn des 5. Jh. v. u. Z. Leipzig, 1967 [V: Berlin: Akademie-Verlag, 1973.

Kaufmann, Bernd: Die außenpolitische Strategie und Taktik der Volksrepublik China gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika in der Periode der Entwicklung des großmachtpolitischen Kurses der chinesischen Führung (1957/58 bis 1972/73). Berlin, Humboldt-Univ., 1978.

Kaufmann, Sylvia-Yvonne: Japan-VR China. Zur Entwicklung der japanischen Chinapolitik unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1972 bis 1982. Berlin, Humboldt-Univ., 1984.

Moritz, Ralf: Hui Shi und die Entwicklung des philosophischen Denkens im alten China. Leipzig, 1969.

Peters, Helmut: Die Taiping Herrschaft in den Kreisen Changshu und Zhaowen unter besonderer Berücksichtigung ihrer Boden- und Steuerpolitik, Leipzig, 1962.

Zahlreiche Aufsätze stammen von anonymen Autorenkollektiven. Zusätzlich wurden auch Übersetzungen von Beiträgen osteuropäischer Autoren und Rezensionen von Büchern westlicher Autoren veröffentlicht.

 

Themen

Die obengenannten Forschungsthemen sind nicht zufällig entstanden, sondern waren langfristig festgelegt. In dem "Maßnahmeplan der aktuellen Chinaforschung" von 1973 steht folgendes:

1. Entwicklung der Arbeiterklasse

2. Wesen des Maoismus

3. Politische Struktur des heutigen China

4. Spaltertätigkeit der Maoisten in der internationalen kommunistischen Bewegung

5. Europapolitik chinesischer Führer

6. Auseinandersetzung mit der reaktionären bürgerlichen Sino-politologie, insbesondere der BRD und Westberlins

Siehe auch hier.

 

Literatur:

T. Kampen: Ostasienwissenschaften in der DDR und in den neuen Bundesländern, in: Krauth/Wolz: Wissenschaft und Wiedervereinigung - Asien- und Afrikawissenschaften im Umbruch, Berlin: Akademie Verlag, 1998, 269-306.

 

 

Dr. Thomas Kampen

 

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Fachdidaktikschulung: China an die Schulen!

Selten erlebt man den Raum 208 der Sinologie so ausstaffiert mit Plakaten, Postern, Tafelbild, Powerpoint, Lehrbüchern, Spielzeug und vielen weiteren Kleinigkeiten. Am 7. Februar versammelten sich dort gut ein Dutzend Mitglieder des SHAN-Schulteams, um an einer Teamfortbildung teilzunehmen. Petra Müller, vielen bekannt als Absolventin unseres Instituts und Chinesisch-Lehrerin am Schiller-Gymnasium in Marbach am Neckar, führte uns durch ihren Garten an chinesischen Materialien.

Zunächst ging es jedoch um die Rahmenbedingungen sowie Lehr- und Lernziele von Chinesisch- Unterricht am Gymnasium: Welcher Rahmen und welche Ziele sind gesetzlich in den Bildungsstandards Baden-Württembergs festgelegt? Welche Kontaktpersonen spielen bei der Etablierung einer AG eine besondere Rolle? Wie sensibilisiert sind das Kollegium und die Eltern in Bezug auf China? Wie finanziert man AGs? Wie ist die Schule technisch ausgestattet? Ab welchem Alter ist die Einführung der Fremdsprache sinnvoll? Wie viel Mehraufwand bedeutet die Fremdsprache für die Schülerinnen und Schüler?

Später ging es sehr konkret um mögliche Lehr- und Lerntechniken eines Fremdsprachenunterrichts, der kommunikativ wie pragmatisch orientiert ist. Dieser Ansatz nimmt den Kompetenzerwerb der Schülerinnen und Schüler in den Fokus und stimmt die Feinplanung der Unterrichtsgestaltung entsprechend ab. Statt umfassender Vokabelkenntnis oder einwandfreier Grammatik geht es um die Fähigkeit sich verständlich zu machen und Strategien zu entwickeln, mit Verständnislücken umzugehen.

Lehrbücher sind nach wie vor unabdingbar als Rahmen für einen strukturierten Unterricht. Deshalb nutzten wir die Gelegenheit bei der Schulung verschiedene Lehrwerke zu vergleichen und zu evaluieren. Dabei gilt es viele verschiedene Aspekte zu berücksichtigen, von Zeichen-Sequenzierung über die Notwendigkeit von Pinyin bis hin zur Realitätsnähe der Illustrationen und Bilder. Bei der Diskussion konnten besonders die anwesenden Teammitglieder, die im Rahmen des Projektes “China an die Schulen!” eine China AG leiten, ihre Erfahrungen mit den anderen teilen. Zugleich sprachen wir über Alternativen und Strategien, um mit Schwächen von Lehrbüchern umzugehen.

Am Nachmittag widmeten wir uns den einzelnen Aspekten des Spracherwerbs: Hören, Sprechen, Schreiben und Lesen. Einem kurzen lernpsychologischem Exkurs folgten Beispiele für die didaktische Aufbereitung von Themen, die innerhalb der ersten Lernwochen interessant werden können. Nahezu unmerklich waren die Übergänge zwischen theoretischer Rückbindung, Diskussion, Erfahrungsaustausch und geleiteten Beispielen. So wurde direkt nach der Mittagspause von uns voller Körpereinsatz gefordert: Die ganze Gruppe tanzte Töne bis alle aus dem Mittagsschlaf erwacht waren, um dann sofort über die Bedeutung der Verbindung der beiden Hirnhälften (Hemisphären) zu reflektieren. Ebenso flüssig flocht Petra Müller wissenschaftliche Studien zu Fachdidaktik und Lernpsychologie ein und gab immer wieder Hinweise auf die Einsatzmöglichkeiten neuer Medien: Von der automaischen Erstellung von Strichreihenfolgen über Pleco und Wechat bis hin zu den extrem aktuellen Materialien von New Chinese (Niu Zhongwen).

In jeder Pause waren wir uns einig: Lange schon ist Unterrichtszeit nicht mehr so unmerklich und schnell verstrichen! Trotz der Unmenge an Materialien und einem rigorosen Zeitplan schuf Frau Müller ein angenehmes Gesprächsklima, regte nicht nur den Erfahrungsaustausch an, sondern war selbst das beste Beispiel für guten Unterricht.

Im Rahmen des Projektes “China an die Schulen!” fahren im kommenden Mai drei Teammitglieder nach Leipzig um am dortigen Konfuzius-Institut an einer Didaktik-Schulung teilzunehmen. Während einem der folgenden Schulteamtreffen, bei dem alle Interessierten herzlich willkommen sind, werden die Teilnehmer berichten, was sie dort Neues gelernt haben.

 

 

Odila Schröder

 

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Fotowettbewerb: Zeigen Sie uns Chinas und Taiwans schönste Seiten!

Atemberaubende Landschaften, weltberühmte Sehenswürdigkeiten oder das Besondere im Alltäglichen: In China und auf Taiwan finden Hobbyfotografen eine Fülle an schönen Motiven. Schlummern auch auf Ihrer Festplatte noch sehenswerte Bilder, die darauf warten, endlich gewürdigt zu werden? SHAN e.V. sucht Ihre besten Reisefotos! Die gelungensten Aufnahmen werden bei der diesjährigen Ehemaligenfeier ausgestellt und prämiert.
 
Wenn Sie an unserem Fotowettbewerb teilnehmen möchten, schicken Sie einfach eine E-Mail mit ihren Fotos und der Geschichte dahinter an shan@zo.uni-heidelberg.de.
 
Wir freuen uns auf Ihre Bilder und wünschen viel Erfolg!

 

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Letzte Änderung: 25.04.2015
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