Newsletter Dezember 2011 Nr. 58

INHALT

Zwischen Phantasie und Perfektion

Viktoria Dümer berichtet über die Podiumsdiskussion „Zwischen Phantasie und Perfektion – Erziehung und Bildung in China und Deutschland“ die am 2. Dezember 2011 vom Konfuzius-Institut Heidelberg veranstaltet wurde.

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Erzählen Sie mal ... Hanno Lecher

Seit Dezember 2009 gibt es im Zentrum für Ostasienwissenschaften keine drei strikt getrennten Institutsbibliotheken mehr, sondern eine gemeinsame Bereichsbibliothek Ostasien. Was bedeutet das praktisch für die Abläufe im Bibliotheksalltag und welche Vorteile bietet die Zusammenlegung? SHAN e.V. hat Hanno Lecher, den Leiter der Bereichsbibliothek Ostasien, dazu befragt.

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Zwischen den Welten: Musik der Jesuiten in Peking

Viele haben schon von dem Clavichord gehört, das Ricci dem chinesischen Herrscher schenkte. Später wurde ein Jesuit dafür zuständig die Cembali, die Kangxi in fast jedem seiner Räume stehen hatte, zu stimmen. Doch was wurde auf den Instrumenten gespielt? Wie könnte die Musik geklungen haben, die im 18. Jahrhundert am chinesischen Kaiserhof zu hören war?

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Li Ers Übersetzerin Thekla Chabbi im Interview

Li Er ist in der Volksrepublik China ein anerkannter Autor, der bereits zahlreiche Preise erhalten hat. Thekla Chabbi erläutert im Interview seine subtile Art, um Kritik an der Gesellschaft und ihrer aktuellen Entwicklung zu üben, und wie das zunächst leise Erscheinen eines Buchs langfristig zum Erfolg führen kann.

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Sprachkolumne: Gewitter, Blitz und Donner

In der siebten Ausgabe der Sprachkolumne erklärt He Xiangliang passend zur magischen Zahl ein Himmelsphänomen. Denn es gibt zahlreiche Aspekte des Begriffs "Gewitter" 雷, die man nicht in den ersten Chinesischlektionen lernt.

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Ein Vierteljahrhundert Heidelberger Ostasienwissenschaften

Seit wann gibt es die Heidelberger Sinologie? Wo befand sich die Japanologie vor 25 Jahren? Welche bekannten Gesichter haben in den siebziger und achtziger Jahren schon in Heidelberg studiert? Lesen Sie hier.

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Nachruf: Holger Kühnle

Für viele Freunde und Kollegen kam die Nachricht, dass Holger Kühnle am 28.11.2011 verstarb, überraschend. Er bleibt als Freund, Lektor und engagierter Wissenschaftler der klassischen Sinologie in Erinnerung.

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Zwischen Phantasie und Perfektion

Ein kleiner Junge steht vor seiner Klasse, schaut auf zu seinen Mitschülern, die ihn kritisch mustern. Sie zwingen ihn, sich zu entschuldigen. Warum? Weil er kleine Löchlein in sein Radiergummi gebohrt hat. Es ist eine Frage des Respekts, sagt die Lehrerin. So wie der Junge selbst respektiert werden möchte, muss er die Gemeinschaft und ihre Gegenstände respektieren.

Diese Szene ist Teil einer BBC-Dokumentation, die Prof. Dr. Jürgen Henze zu Beginn seines Vortrags über das chinesische Bildungswesen zeigt. Anlass ist die Podiumsdiskussion „Zwischen Phantasie und Perfektion – Erziehung und Bildung in China und Deutschland“ im Heidelberger Marriott Hotel, veranstaltet vom Konfuzius-Institut Heidelberg. Sechs Experten sind geladen, Prof. Henze ist als Leiter des Instituts für Erziehungswissenschaften, Abteilung Vergleichende Erziehungswissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität einer von ihnen. Bevor er das Video zeigt, warnt er davor. Es werde das Publikum emotional berühren.

Er soll recht behalten. Der Junge, der so offensichtlich – nur wegen eines Schreib-Utensils – von und vor seiner Klasse bloß gestellt wird, dabei zu weinen beginnt, erregt Mitleid bei den Zuschauern, während seine Lehrerin mit schriller Stimme und harschem Ton zunächst, aus deutscher Perspektive, das Negativ-Beispiel einer Pädagogin darzustellen vermag.
Doch Henze möchte mit diesem Video keineswegs nur wachrütteln oder schockieren, sondern vor allem auch die interkulturellen Unterschiede in Erziehungskonzeptionen vorstellen: Je nach Gesellschaft und kulturellem Kontext wird „gute“ Erziehung eben anders bewertet.

Strenge Lehrer, gedrillte Schüler, ehrgeizige Eltern

Viel zu strenge Lehrer, gedrillte Schüler und ehrgeizige Eltern – diese von den Medien gern beschriebenen, stereotypen Bilder erscheinen beim Anblick des Videos schnell vor dem inneren Auge des „westlichen“ Zuschauers. Aber ist Chinas Bildungswesen tatsächlich so einfach zu beurteilen?
Natürlich nicht. Spätestens seit der letzten PISA-Studie 2009, bei der Shanghai allen anderen Ländern den Rang ablief, beginnen auch Europäer, sich mit dem chinesischen Bildungswesen auseinanderzusetzen. In einem Land, dessen Schüler den Ruf haben, viele Lehrinhalte, zu Lasten der Kreativität, auswendig zu lernen, so wurde damals in den Diskussionen um die PISA-Studie argumentiert, sei so ein Ergebnis nicht verwunderlich – zumal die Ergebnisse aus Shanghai und Hong-Kong nicht das ganze Land repräsentieren. Doch inwieweit sind diese Einwände tatsächlich zutreffend?

„Für viele Menschen im Westen Chinas, auf dem Land, ist Bildung noch immer ein Luxusgut“, so Gu Baoyan, Professorin für Literatur, Wirtschaft und Verwaltung von der Beijing Open University. Ein Zustand der sich durch staatliche Subventionen langsam verbessert und nicht bedeutet, dass die Bildungsqualität in den westlichen Provinzen zwangsläufig schlechter ist als im Osten Chinas. Wie stichprobenartige Mathematik-Tests von Prof. Henze beweisen, können auch Schüler außerhalb der großen Metropolen ebenso gute Ergebnisse leisten. Untersuchungen haben ergeben, dass chinesische Schüler über verschiedene Memorierungsstrategien verfügen, die sie je nach Kontext anwenden - Auswendiglernen ist nur eine von vielen.

Leistungsdruck oder Laissez-faîre?

Dies stützen die von Prof. Dr. Eckard Klieme, Leiter der Arbeitseinheit Bildungsqualität und Evaluation am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) ausgewerteten PISA-Ergebnisse: Die Shanghaier Schüler stachen gerade nicht in der abstrakten, sondern in der anwendungsbezogenen Mathematik hervor. Auch in der Lesekompetenz, insbesondere im Interpretieren und Reflektieren von Texten schnitten die Chinesen überdurchschnittlich gut ab. Bei einer Umfrage über die Atmosphäre an den Schulen  beklagten sich die Schüler jedoch über den starken Leistungsdruck. Das Problem der deutschen Gesellschaft hingegen sei viel mehr der Mangel an Erwartung an die Schüler und das fehlende Anspruchsniveau, so Prof. Klieme.

Was China und Deutschland voneinander lernen können

China und Deutschland können tatsächlich viel voneinander lernen. „Charakterbildung, Persönlichkeitsentwicklung und soziale Kompetenz sind Stärken des deutschen Bildungssystems“, so Dr. Jiang Feng, Gesandter-Botschaftsrat für Bildungswesen der Botschaft der VR China in Deutschland. „Die Förderung der Selbstständigkeit wie in deutschen Kindergärten ist auch wichtig, sie ist Teil einer intensiven, anschaulichen Sozialisation.“ Seine Kinder gehen in Berlin zur Schule und so weiß er auch um die Mängel an deutschen Bildungseinrichtungen: „Wissen könnte noch systematischer vermittelt werden. Außerdem sollten Schüler, Lehrer und Eltern einen Verantwortungs-Verbund bilden, dies würde die Schulleistungen verbessern.“

China hat seine Probleme im Bildungssystem bereits erkannt, setzt immer mehr, wenn bisher auch nur zaghaft auf eine Diversifizierung der Bildungslandschaft. „Im Layout der Schulbücher hat sich eine Veränderung vollzogen. Es ist moderner, bebilderter und schülerfreundlicher gestaltet als die rein textorientierten Vorgänger“, so Prof. Dr. Gotelind Müller-Saini, Professorin am Institut für Sinologie der Universität Heidelberg. Auch seien Ansätze interaktiver und kreativer Gestaltung von Unterrichtsstunden zu verzeichnen, die jedoch regional und individuell – je nach Klassengröße und Qualifikation des Lehrers - unterschiedlich umgesetzt würden.

Bedeutung von frühkindlicher Förderung

So verschieden die Bildungssysteme und Erziehungsansätze sein mögen, ein Thema ist für Eltern beider Länder gleichermaßen wichtig: die frühkindliche Förderung. Wie wichtig diese für die geistige Entwicklung ist, weiß Prof. Dr. Anna Katharina Braun, Leiterin des Instituts für Biologie, Abteilung Zoologie/Entwicklungsbiologie der Universität Magdeburg. Je mehr das Gehirn in den ersten Lebensjahren angeregt wird, desto größer sind seine Kapazitäten. Die Neuronen in den Köpfen chinesischer und deutscher Kinder arbeiten gleich - sie wollen angeregt werden und dazu lernen. Wie dies zukünftig im Idealfall geschehen sollte, muss langfristig erörtert werden. Dass es sich für beide Länder jedoch lohnt auf die Methoden des anderen zu schauen, wurde bei der Podiumsdiskussion von den Experten der unterschiedlichen Fachrichtungen verdeutlicht.

Die Moderation lag bei Petra Aldenrath,  ehemalige ARD-Auslandskorrespondentin in Peking und China-Expertin. Veranstalter war das Konfuzius-Institut Heidelberg, unterstützt wurde die Podiumsdiskussion, die rund 130 Sinologen, Pädagogen und China-Interessierte anlockte, von der Robert Bosch Stiftung. Das Feedback der Teilnehmer war positiv, auch nach Ende der Veranstaltung diskutierten Gäste und Referenten die aufgeworfenen Fragen weiter. 2012 wird die Veranstaltungsreihe „Dialog der Kulturen“ mit dem Thema „Alt werden in Deutschland und China“ fortgesetzt.


Viktoria Dümer

 

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Erzählen Sie mal, Hanno Lecher!

 

Hanno Lecher ist seit Dezember 2009 Leiter der Bereichsbibliothek Ostasien, die sich aus den drei ehemaligen Institutsbibliotheken der Sinologie, der Japanologie und der Ostasiatischen Kunstgeschichte zusammensetzt. SHAN hat ihn zur Rolle der Bereichsbibliothek im nationalen Vergleich, den Vorteilen, welche diese bieten kann und den zukünftigen Entwicklungen in der Bereichsbibliothek befragt.

 

SHAN:  Herr Lecher, wie sind Sie als Bibliothekar an die Universität Heidelberg gekommen?

Herr Lecher: Nun, ich habe Sinologie in Wien studiert und bin dort auch schon auf einer halben Stelle in der Bibliothek tätig gewesen – einer mit ca. 20.000 Bänden eher kleinen Einrichtung. Im Jahr 1997 kam ich dann das erste Mal nach Heidelberg. Damals war Thomas Hahn noch Leiter der sinologischen Bibliothek, und ich habe zunächst als Bibliotheks­angestellter mit ihm zusammen gearbeitet. Die Heidelberger Sinologie hatte damals schon den Ruf als eine der großen sinologischen Sammlungen in Europa (über 100.000 Bände) und vor allem als internationaler Vorreiter im digitalen Bereich. Die gesamte EDV war in dieser Zeit noch integraler Bestandteil der Bibliothek, was eine ziemliche Herausforderung bedeutete, da wir über längere Phasen keinen EDV-Hiwi hatten, aber die verschiedensten Systeme und Server betreuen mussten – von Windows über Linux bis hin zu zwei Sun SPARC stations, auf denen wir einen eigenen Mailserver, einen Webserver, ein Novell Network als Dateiserver, den Allegro Server für den OPAC sowie diverse Datenbanken und die unterschiedlichsten Dienste installiert hatten. Als ich kam, hatte ich von all diesen Dingen keine Ahnung, konnte weder programmieren noch mit Unix umgehen, ich hatte nur einige Erfahrung mit HTML – der Sprache, in der Webseiten umgesetzt werden. Herr Wagner war natürlich sehr nervös, ob ich das alles denn ad hoc übernehmen könnte, falls Herrn Hahn plötzlich – wie er sich ausdrückte – "ein Stein auf den Kopf fallen würde". Als Thomas Hahn 1998 als Leiter der Ostasien-Bibliothek der University of Wisconsin in die USA ging, habe ich die Bibliothek dann tatsächlich ganz übernommen.

Im Jahr 2003 bin ich für sechs Jahre nach Leiden gegangen, um dort die sinologische Bibliothek zu leiten. Die Zeit in Leiden war sehr schön und hat mir auch viel Spaß gemacht. Unter anderem aus familiären Gründen habe ich mich aber dann wieder für eine Stelle in Heidelberg beworben. Das hat auch geklappt, und so bin ich mit der Gründung der Bereichsbibliothek Ostasien (kurz BOA) im Dezember 2009 Leiter dieser Bibliothek in Heidelberg geworden.

 

SHAN:  Wie kann man unsere Bibliothek im nationalen Vergleich einordnen?

Grundsätzlich muss man dabei in Deutschland zwei Arten von Bibliotheken mit ostasiatischen Sammlungen unterscheiden, die Staatsbibliotheken und die Universitätsbibliotheken (Museumsbibliotheken und Spezialsammlungen lasse ich hier der Einfachheit halber außer Betracht). Die beiden Staatsbibliotheken in Berlin und München haben sehr große Sammlungen: so hat die Staatsbibliothek in Berlin beispielsweise über 650.000 Bände an ostasiatischen Beständen und gehört damit zu den größten Sammlungen außerhalb Ostasiens. Sie ist Sondersammelgebiet (SSG) für den Bereich Ost- und Südostasien, was bedeutet, dass sie soweit möglich alle wissenschaftlichen Veröffentlichungen aus diesem Fachbereich sammeln muss. Durch das System der Sondersammelgebiete kann gewährleistet werden, dass von jeder wissenschaftlich relevanten Arbeit mindestens ein Exemplar in Deutschland vorhanden ist. Die verantwortlichen Schwerpunktbibliotheken werden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) – deren Aufgabe die Förderung von Forschung in Deutschland ist – finanziell unterstützt.

Dem gegenüber stehen die Bibliotheken an universitären Einrichtungen, zu denen auch die unsrige gehört. Was die Größe unserer Bestände angeht, so gehören wir sicherlich zu den größten ostasiatischen Sammlungen in Deutschland, und auch europaweit zählen wir wohl neben Leiden, der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS) und Oxford zu den großen Institutsbibliotheken. Auch in Paris gibt es einen reichen Bestand an ostasiatischer Literatur, der allerdings auf mehrere Bibliotheken verteilt ist.

 

SHAN:  Nach welchen Kriterien werden Medien in unserer Bibliothek angeschafft?

Da der chinesische Buchmarkt in den letzten zwanzig Jahren regelrecht explodiert ist, können wir natürlich nicht einfach alles kaufen. Das gelingt nicht einmal der Staatsbibliothek zu Berlin, die ja wie bereits gesagt eine Sonderstellung einnimmt und die Möglichkeit hat, sehr viel anzuschaffen. Unsere Bibliothek ist wissenschaftlich orientiert. Man muss sich vor Augen halten, dass die Bibliothek der Sinologie in Heidelberg innerhalb von 20 Jahren quasi im Alleingang von Herrn Prof. Wagner aufgebaut worden ist, sowohl, was die Beschaffung der Finanzmittel betrifft, als auch hinsichtlich der Bestandsentwicklung, also der Auswahl der anzuschaffenden Literatur. Wie gut seine Auswahl war, ist mir besonders in meiner Zeit in Leiden bewusst geworden. Immer wieder kam es vor, dass ich wichtige Titel in der etwa dreimal so großen Sammlung in Leiden, wo seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts gesammelt wird, vergeblich suchte, während sie in Heidelberg ganz selbstverständlich im Regal standen. Natürlich gibt es aber auch bei uns noch genug Lücken.

Jetzt, wo Herr Prof. Wagner im Exzellenzcluster „Asia and Europe in a global context“ tätig ist, müssen wir neue Wege finden, um die Qualität des Sammlungsaufbaus langfristig zu gewährleisten. Dazu werden gerade Sammlungsprofile entwickelt, die festlegen, welche Themenbereiche wir in welchem Grad der Vollständigkeit erwerben wollen. Dabei macht es natürlich auch einen Unterschied, ob eine Publikation in Deutschland, in Europa oder in China erschienen ist. Dabei sind wir natürlich auch auf die Hilfe der wissenschaftlichen Mitarbeiter des ZO angewiesen. Derzeit wird das Anschaffungsvolumen allerdings sehr stark durch die großen Systemumstellungen des letzten Jahres, das derzeit laufende DFG-Projekt zur Migration unserer OPACs nach HEIDI sowie besonders durch den gravierenden Platzmangel beeinträchtigt, an dessen Lösung wir aber arbeiten.

 

SHAN:  Wie genau ist die Beziehung von der sinologischen zur Universitätsbibliothek?

Früher bildete die Institutsbibliothek einen Teil des Instituts für Sinologie, und es hat nur gelegentlich Kooperationen mit der Universitätsbibliothek gegeben. In der Zeit meiner Nachfolgerin Frau Labitzky-Wagner wurde die Bibliothek der Sinologie dann ausgegliedert und offiziell ein Teil der Universitätsbibliothek. Beispielsweise sind Frau Labitzky-Wagner und ich bei der Universitätsbibliothek angestellt und nicht im Institut. Außerdem wird die Organisation der Arbeitsabläufe und dergleichen mehr und mehr in die der UB integriert. Das Budget für die Anschaffung der Bücher und Zeitschriften sowie die Infrastruktur (Stellflächen, Arbeitsplätze etc.) kommt allerdings nach wie vor vom Institut.

Ich meine, dass die Integration mit der Universitätsbibliothek ein natürlicher und wichtiger Schritt ist. Hier ist schließlich das bibliothekarische Know-how, hier finden die katalogtechnischen Entwicklungen statt. Dabei ist aber natürlich darauf zu achten, dass die institutsspezifischen Bedürfnisse nicht zu kurz kommen, was immer wieder eine große Herausforderung darstellt. Langfristig ist dies aber die einzige Möglichkeit, eine tragende Infrastruktur für eine Bibliothek zu schaffen, die nicht mehr abhängig von einzelnen Personen sein soll, wie das bisher der Fall war. Daher befürworte ich die gegenwärtige Entwicklung zu einhundert Prozent.

 

SHAN:  Was für Zukunftspläne hat unsere Bibliothek?

Organisatorisch betrachtet sind wir schon seit Ende 2009 eine vereinte Bereichsbibliothek, zusammen mit den Institutsbibliotheken der Japanologie und der ostasiatischen Kunstgeschichte. Der nächste Schritt ist nun die Schaffung einer einheitlichen Website für die Bibliothek. Im Januar 2012 wird die Ausbaustufe eins dieser Website zur Evaluierung für alle Mitarbeiter und Studenten freigeschaltet werden, und voraussichtlich im Februar gemeinsam mit Ausbaustufe zwei offiziell die drei alten Bibliotheksseiten der Sinologie, Japanologie und der Ostasiatischen Kunstgeschichte ersetzen. Damit schaffen wir eine gemeinsame Plattform und setzen auch nach außen hin ein deutliches Signal. Im Zentrum wird dabei der Servicecharakter stehen, es werden also neue Recherchetools erstellt und gezeigt werden, wo man überall suchen kann. Viele dieser neuen Services werden allerdings erst mit Abschluss der Ausbaustufe drei angeboten werden können, etwa Mitte des kommenden Jahres.

Das Projekt, welches uns derzeit allerdings am Meisten beschäftigt, ist das schon erwähnte DFG-Projekt, dessen Ziel der Nachweis all unserer Bestände in HEIDI/SWB sowie die einheitliche Signierung dieser Bestände mit Library of Congress-Signaturen (LOC) ist. Ein nächster Schritt wird dann das Zusammenziehen der Teilbibliotheken in eine gemeinsame Räumlichkeit sein, vielleicht sogar – gemeinsam mit dem SAI – in eine große Asienbibliothek?

 

SHAN:  Welche Vorteile bietet die Zusammenlegung der drei Institutsbibliotheken zu einer Bereichsbibliothek?

Die Zusammenlegung bietet vor allem vier wichtige Vorteile: Zunächst ist da die inhaltliche Überschneidung eines Teils unserer Bestände. So stehen in der Sinologie beispielsweise kunstgeschichtliche Publikationen, die auch im Institut für Ostasiatische Kunstgeschichte (IKO) benötigt werden oder dort sogar ein zweites Mal zu finden sind. Durch die Einrichtung einer gemeinsamen Räumlichkeit können wir dieses Überschneidungsproblem lösen und durch Aussonderung der Dubletten sogar Raum gewinnen.

Zweitens ist es den Benutzern der Bibliothek durch eine Zusammenlegung möglich, „über den Tellerrand hinaus zu blicken“. Viele Themen, die Ostasien betreffen, können durch die auf ein Land oder einen Bereich begrenzte Sicht nicht abgedeckt werden. Durch die Bildung einer Bereichsbibliothek wird der Horizont der Benutzer erweitert und auch auf vorher unbekannte Dinge gelenkt.

Außerdem ist für uns natürlich besonders wichtig, dass man in einer Bereichsbibliothek deutlich effizienter arbeiten kann. Man hat beispielsweise eine gemeinsame Ausleihe und kann dadurch mit insgesamt weniger Personaleinsatz längere Öffnungszeiten anbieten. Generell lassen sich Ressourcen besser einsetzen und zum Beispiel die Neuerwerbung viel effizienter gestalten.

Dazu kommt noch, dass die Präsentation nach außen hin eine ganz andere ist. Als Bereichsbibliothek Ostasien, die einen Zusammenschluss von drei wichtigen Bibliotheken darstellt, erzeugt man eine ganz andere Wirkung, als eine einzelne Institutsbibliothek dies kann.

 

SHAN:  Gibt es so etwas wie eine nationale Entwicklung hin zur Zusammenlegung von Bibliotheken?

Naja, wir überspielen zwar alle unsere Bestände in HEIDI und in den SWB – den Südwestdeutschen Bibliotheksverbund –, sodass sie an einer gemeinsamen Stelle zu finden sind. Das heißt aber nicht, dass wir demnächst  z.B. Uni-weit alle unsere Bestände in einem Gebäude zusammenlegen werden. Die Rolle der zentralen Universitätsbibliothek ist auch eine etwas andere als die der dezentralen Bibliotheken, die mit ihren spezialisierten Beständen vor allem den Nutzern des jeweiligen Instituts zur Verfügung stehen sollen und gleichzeitig auch leichter auf Besonder­heiten des Fachgebietes eingehen können. Des ungeachtet sind wir eine Bibliothek, die aufgrund ihrer Größe auch international eine gewisse Verantwortung hat: abgesehen vielleicht von der Staatsbibliothek zu Berlin können selbst die großen ostasiatischen Sammlungen in Europa nur mit Mühe im Feld der mittelgroßen amerikanischen Ostasien-Bibliotheken mitspielen. Umso wichtiger ist es für die Ostasienforschung in Europa natürlich, die wenigen großen Sammlungen hier sorgfältig weiter zu pflegen und auszubauen.

Im digitalen Bereich schaut das schon ein wenig anders aus. Im Internet gibt es in Deutschland beispielsweise sogenannte „virtuelle Fachbibliotheken“ – für Ostasien z.B. „CrossAsia“ –, welche als von der DFG geförderte Wissenschaftsportale der jeweiligen Fächer dienen. Hier sollen deutschlandweit alle wichtigen Ressourcen zusammenfließen. Diese virtuellen Fachbibliotheken werden von den Sondersammelgebieten – in unserem Fall also der Staatsbibliothek zu Berlin – zusammengestellt und betreut. Allerdings baut vieles, was heute über CrossAsia angeboten wird, auf bei uns geleisteter Vorarbeit auf, und wir sind auch jetzt noch an einigen Projekten dieses Portals direkt beteiligt. Googeln Sie doch einmal nach "digital resources chinese studies" - von den ersten zehn Links beziehen sich fünf auf Heidelberger Ressourcen, vier auf Harvard und einer auf ein Angebot der UCLA…

Letztendlich ist es wohl dieser digitale Bereich, in dem man noch am ehesten von einem Zusammenwachsen der Bibliotheken sprechen kann. Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit sind beinahe unbegrenzt, und von den Ergebnissen dieser Zusammenarbeit können alle profitieren. Unsere Bereichsbibliothek Ostasien will die Möglichkeiten in diesen Bereichen auch in Zukunft intensiv ausloten und weiter entwickeln.


SHAN bedankt sich herzlich für das Interview!

Das Interview führte Fabienne Wallenwein

 

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Musik zwischen den Welten – Jesuiten in Peking

Manchmal schließen sich Kreise. In der Adventszeit 2009 bekam ich vom Leiter des Chores der Beitang 北堂oder Xishiku Jiaotang 西什庫教堂, der ehemaligen Jesuitenkirche in Peking, einen Packen Noten in die Hand gedrückt. Mit den Angaben „Ricci 6.1, Realisation François Picard“ oder "Li Madou 利瑪竇 Xiqin Quyi 西琴曲意 Mutong You Shan 牧童游山" konnte ich nicht viel anfangen. Mir blieb nur übrig mich über die sonderbaren Klänge zu wundern, die dort niedergeschrieben waren: Chinesische Texte kombiniert mit europäischem Kontrapunkt  oder Basso Continuo als Begleitung für leicht chinesisch anmutende Melodien.  


牧童游山 http://www.youtube.com/watch?v=69XG5VlHi48
胸中庸平 http://www.youtube.com/watch?v=056piLwU5BE

Was also hatte es mit diesen seltsamen Stücken auf sich? Sie sind Arrangements des genannten François Picard, einem Ethnomusikologen. Zugrunde liegen Ihnen von Matteo Ricci verfasste chinesische Texte, die als Verse der „Lieder für Cembalo“ Xiqin Quyi 西琴曲意 überliefert sind. Da die Melodien, zu denen diese Texte in China gesungen wurden, leider unbekannt sind, hat Picard sie zu barocken Stücken gesetzt. In Kooperation mit dem Ensemble "Musique des Lumières" unter Leitung Jean Christophe Frischs wurden die Lieder aufgenommen und 2003 veröffentlicht.

 

Teodorico Pedrini

Doch die Ricci-Lieder sind nicht die einzigen Zeugnisse chinesisch-westlicher Musikbegegnungen. Schon 1996 spielte das Ensemble eine erste CD ein, auf der fünf Sonaten für Violine zu hören sind, die Teodorico Pedrini in Peking schrieb. Pedrini ist dafür bekannt, dass er das erste chinesische Werk über westliche Musiktheorie vollendete, das 律呂正義續編, das Kaiser Kangxi bis 1713 kompilieren ließ. Außerdem baute er eine Orgel für die Beitang 北堂. Die Manuskripte der 12 Sonaten op. 3 blieben in der Bibliothek der Beitang aufbewahrt und sind heute die einzigen überlieferten, in China komponierten europäischen Stücke aus dem 18. Jahrhundert. 

Pedrini: Sonata I en La majeur (violin) http://www.youtube.com/watch?v=JmJd2mYw-Mg

 

Musik einer Messe der Jesuiten

Eine zweite CD des Ensembles rekonstruiert eine Messe, wie sie die Jesuiten in Peking gefeiert haben könnten. Dabei blieb merklich viel der Interpretation Picard und Frischs überlassen. Natürlich kann man nicht hoffen mit Hilfe dieser CDs in die Vergangenheit hören zu können. Vor diesem Problem steht man aber genauso, wenn man moderne Aufnahmen von Kompositionen des europäischen Barocks hört. Dort ist wohl nur die Quellenlage eindeutiger. Aber das Hören regt zumindest zu Überlegungen über verschiedenste Musiktraditionen und den frühen Austausch zwischen ihnen an. Aber die Vorstellung an solch einer Messe teilzunehmen, ob nun bewusst historisch hörend oder zukunftsträumerisch, reizt wohl jeden.
Amiot: Messe des Jésuites de Pékin http://www.youtube.com/watch?v=5b_ZjTnAGV8

Eine dritte CD, auf der auch Picards Ensemble Meihua Fleur de Prunus zu hören ist, kombiniert ebenso Europäisches und Chinesisches und füllt historische Lücken genauso gewieft wie die vorherigen Ausgaben. Vor allem wird deutlich, welch große Rolle Instrumentation für die ästhetische Wahrnehmung einer Komposition spielt.

Hier kann probegehört werden:

http://www.cduniverse.com/search/xx/music/pid/3442116/a/Chine%3A+Jesuites+And+Courtisanes.htm


2003 schließlich kam die Aufnahme heraus, auf der unter anderem die oben beschriebenen Lieder Riccis zu hören sind. Der Chor der Beitang trat in Kooperation mit dem Musique des Lumières, das sich schon für die ersten CDs der Unterstützung chinesischer Musiker bedient hatte. So klärt sich auch wie ich an die Noten kam: Die Arrangements wurden Teil der allwöchentlichen Messe in der Beitang. So schließt sich ein Kreis für Ricci. So schließt sich auch ein Kreis des Wunderns für mich: Nach dem Hören der Aufnahmen konnte ich die Noten aus einem großen Stapel hervorziehen und mitsingen.


CDs:
Teodorico Pedrini: Concert Baroque a la cité interdite (Audivis Astreé: E8609, rec. 1996)
Messe des Jesuites de Pekin (Audivis Astreé: E8642, rec. 1998)
Chine: Jésuites & courtisanes (Buda Records 1984872, rec. 1999)
Vêpres à la Vierge en Chine (K617 K617155, rec. 2003)

Odila Schröder

 

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Leises Erscheinen: Ein Interview mit Li Ers Übersetzerin Thekla Chabbi

 

SHAN: Frau Chabbi, wie sind Sie zum Sinologiestudium gekommen?

T. Chabbi: Ich war immer an Sprachen interessiert. Daher wollte ich eigentlich Französisch und Chinesisch studieren, um Dolmetscherin zu werden. Doch das war nach meinem damaligen Kenntnisstand nur in Germersheim möglich, und dort war der Numerus Clausus sehr streng. So habe ich 1990 begonnen in Trier Sinologie zu studieren. Den intensiven Sprachunterricht haben von anfänglich zwanzig Studierenden nur zehn Studenten bis zum Schluss durchgezogen.

Nach dem zweiten Semester hatten meine Kommilitonen und ich in den Semesterferien das erste Mal die Gelegenheit nach China zu reisen. Dabei hat sich bewahrheitet, dass das Land keinen gleichgültig lässt und zum Teil sogar stark polarisiert: manche empfinden Liebe, manche gar Hass, und so haben einige das Sinologiestudium, nach ihren Erfahrungen mit der Realität vor Ort, abgebrochen.

 

Haben Sie sich schon früh für eine berufliche Orientierung entschieden?

Schon während des Studiums habe ich journalistisch gearbeitet und in diesem Bereich auch Praktika, u.a. bei der Deutschen Welle, absolviert. Für den RPR (Rheinland-Pfälzischer Rundfunk) war ich als freie Mitarbeiterin tätig. Parallel zum Studium bot es sich auch immer an als Studienreiseleitung gleichzeitig etwas dazu zu verdienen, Erfahrungen zu sammeln und möglichst oft nach China zu reisen.

Nach Studienabschluss wäre ich gerne beim Journalismus geblieben, doch das hat leider nicht geklappt. Deshalb habe ich dann bei einigen Stationen in Jobs ohne Chinabezug gearbeitet. Im Jahr 2004 habe ich mich dann für die Selbstständigkeit entschieden und eine eigene Sprachschule eröffnet. Seither unterrichte ich dort sowie bei anderen Institutionen und Firmen Chinesisch und habe auch ein eigenes Chinesisch-Lehrbuch publiziert.  Außerdem mache ich interkulturelle Managertrainings zu China.

 

Und parallel zu dieser Tätigkeit arbeiten Sie als Übersetzerin?

Übersetzen ist eine sehr interessante Arbeit, die es einem selbst erlaubt ganz tief in eine Thematik oder eine Geschichte einzutauchen, um dem Publikum eine neue Welt zu erschließen. Doch von der Arbeit als Übersetzerin allein kann man nicht leben. Dafür ist der Zeitaufwand, den man benötigt, zu groß und das Honorar, das man als Übersetzer für Chinesisch pauschal pro Seite erhält, zu gering. Bei jedem Satz muss man sich zunächst in die ganz andere sprachliche Struktur ein denken. Oftmals gilt es einen Satz in der Übersetzung vollkommen zu transformieren. 

 

Wie kam denn der Kontakt mit Li Er zustande?

Zunächst habe ich mich in China umgehört und vor Ort nach einem interessanten Autor gesucht. Denn ich wollte gerne neben dem Sprachunterricht auch als Übersetzerin, zunächst für Kurzgeschichten, arbeiten. So bin ich auf Li Er gestoßen, dessen Kurzgeschichten sehr interessant sind. Die Suche nach einem deutschen Verlag war dann sehr schwierig. Außerdem führen Verlage neue Autoren nur über einen Roman ein. Deshalb habe ich mich entschieden zuerst Li Ers zweiten Roman Der Granatapfelbaum, der Kirschen trägt ins Deutsche zu übersetzen. Meine Hoffnung war dabei, dass die Themen dieses Romans für ein deutsches Publikum leichter zu verstehen wären als Koloratur, Li Ers erster Roman, den ich dann im Anschluss übersetzt habe. Schließlich hat sich der dtv Verlag vom Konzept des Granatapfelbaum überzeugen lassen. Zur Frankfurter Buchmesse 2009, als China Gastland war und viele Verlage Bücher mit diesem Schwerpunkt herausbrachten, ist dann Koloratur bei Klett Cotta erschienen.

 

Sind Li Ers Romane auch noch in weitere westliche Sprachen übersetzt worden?

Nein, bisher gibt es nur die deutsche Übersetzung und einen Vertrag mit Italien. Koloratur wurde aber ins Koreanische übersetzt. Zeitgenössische chinesische Literatur ist nach wie vor schwer in anderen Ländern zu vermitteln.

 

Könnten Sie kurz den Inhalt und die Themen des Romans zusammenfassen?

Der Granatapfelbaum, der Kirschen trägt ist eine Gesellschaftssatire. Der Roman spielt auf dem Land, in einem kleinen, scheinbar fortschrittlichen Dorf mit einer Bürgermeisterin an der Spitze. Anfangs überwiegt der Eindruck eines harmonischen Miteinanders, doch hinter den Kulissen bestimmt eine Vielzahl von Konflikten und Intrigen das Zusammenleben der Dorfbewohner. Ihre Gemeinschaft zerfällt zusehends im Streit über die Umsetzung der Ein-Kind-Politik, Zugeständnisse an einen möglichen Investor und (religiöse) Toleranz. Je weiter die Handlung fortschreitet, desto mehr zeigt sich die eigentliche Rückständigkeit und das Unverständnis der Dorfbewohner dafür, was Fortschritt in Wirklichkeit bedeutet. Dabei stellt dieses Dorf den chinesischen Mikrokosmos dar und behandelt Themen von nationaler Tragweite.

 

Wie wurde dieser Roman in China von Kritikern und  Lesern aufgenommen?

Er war sehr erfolgreich. Der Granatapfelbaum, der Kirschen trägt erhielt 2003, nach seiner Vorabveröffentlichung in einer Literaturzeitschrift, den Preis der Literaturkritiker für die beste Erzählung.  Im Jahr 2004 wurde er mit dem Leserpreis für den besten Roman ausgezeichnet. Im März 2005 bekam Li Er dann außerdem den Großen Medienpreis für chinesisch-sprachige Literatur 2004 in der Kategorie Belletristik verliehen. Dabei interessieren sich viele chinesische Leser in den Städten nicht für die Geschehnisse auf dem Land. Dementsprechend gab es auch folgende Argumentation zu hören: „Was mit den primitiven Bauern passiert, will niemand lesen. Es interessieren nur Geschichten von erfolgreichen Persönlichkeiten, die höher stehen als man selbst.“ Doch wenn sich Leser intensiver mit dem Roman auseinander setzen, erkennen sie meist rasch den größeren Zusammenhang und die gesellschaftskritischen Metaebene.

 

Erzählen Sie uns von dem Autor hinter diesem interessanten Roman!

Li Er ist in der Volksrepublik China sehr angesehen und gilt als einer der besten und anspruchsvollsten Autoren der Gegenwart. Heute sind seine Roman Pflichtlektüre im Literaturstudium. Ursprünglich stammt Li Er aus der Provinz Henan und hat lange an der Fudan Universität in Shanghai gelehrt. Bis August dieses Jahres war er hauptberuflich Autor, jetzt hat er eine hohe Position am Pekinger Literaturmuseum 文学博物馆 (wenxue bowuguan) inne.

Zu Li Ers Popularität hat auch die Presse und PR für seine Romane in Deutschland beigetragen, die dann nach China „zurückgeschwappt“ ist. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 in Peking war, hatte sie als Gastgeschenk für Präsident Hu Jintao die deutsche Ausgabe von Li Ers Granatapfelbaum dabei. Außerdem hat sie sich bei diesem Besuch in China auch zu Hintergrundgesprächen mit dem Autor getroffen. Das war für ihn als eine Anerkennung über die Landesgrenzen hinaus ein fantastischer Popularitätsschub.

 

Und wie waren die Reaktionen auf Koloratur?

Es gibt zunächst einmal eine interessante Vorgeschichte zur Veröffentlichung des Romans Koloratur. Li Er hatte ein Angebot eines kleinen Verlags, der ihm eine Auflage von einer Million Exemplaren versprach. Doch dann kam der Lektor des Pekinger Volksverlags 人民出版社 (renmin chubanshe) mit einem neuen Vorschlag auf den Autor zu und schlug vor, lieber in einer kleineren Auflage von zunächst 30 000 Büchern zu beginnen und dann nachzudrucken. Denn seiner Meinung nach werde das Buch ansonsten nach kurzer Zeit zensiert und aus den Buchläden verbannt. Li Er hat sich schließlich für die „leisere“ Variante der Erscheinung entschieden, und der Erfolg hat ihm Recht gegeben: der Roman konnte sich so langsam, aber sicher etablieren.

 

Entspricht dieses „leise“ Erscheinen des Romans seiner „leisen“ Kritik?

Ja, man könnte sagen, dass der Roman Koloratur sehr geschickt und doch beißend Kritik übt. Das zentrale Thema ist die Aufarbeitung und der Umgang mit Geschichte und die Beurteilung historischer Wahrheiten. Die Geschehnisse der 40er Jahre werden im Rückblick aus drei Perspektiven nacherzählt. Der Protagonist Ge Ren, um den alle Personen und Ereignisse kreisen, kommt selbst nicht zu Wort. So bleibt seine Figur rätselhaft und widersprüchlich. Doch eben diese Widersprüche sind meiner Meinung nach eine zentrale Botschaft Li Ers. Denn er will den Leser dazu befähigen selbst zu entscheiden, was Lüge und was Wahrheit ist, wer Geschichte schreibt und wer Geschichte verfälscht. Dazu muss jeder Einzelne das Mosaik vieler verschiedener Erzählungen zusammensetzen und sich ein eigenes Bild machen.

 

Ist die Figur des Ge Ren also ein Jedermann und gleichzeitig ein Ideal?

Ja, Ge Ren ist auf jeden Fall der Gesellschaft seiner Zeit voraus und verkörpert einen Idealismus, der in seinem Außenseiterdasein zum tragischen Scheitern verurteilt ist. In die Gestaltung seiner Figur hat Li Er westliche Denkweisen einfließen lassen: u.a. Elemente der Philosophie Nietzsches, von Ibsens Peer Gynt und aus Shakespeares Macbeth. Somit steht Ge Ren für einen Austausch, denn er hofft auf einen wahren Wandel der Gesellschaft nach der Revolution 1911, der seiner Meinung nach jedoch nur durch einen Impuls von außen kommen kann. Gleichzeitig  kann Ge Ren den Kampf für eine gesellschaftliche Veränderung nur leise, doch beständig im Untergrund führen; sein Tod als Märtyrer würde schließlich nicht zu einer Besserung beitragen.

 

Ist das auch die Situation in der sich der Li Er befindet?

Ja, ebenso geht es dem Autor. Er will weiter im Land bleiben, um zu aktuellen Themen in der Gesellschaft und in seiner Muttersprache zu schreiben. Also bleibt er in seiner Kritik indirekt und allegorisch. Hier in Deutschland hingegen gilt es ja oft als eine Art Verkaufsargument, wenn ein Autor als Dissident bezeichnet wird oder seine Werke verboten werden. Aber wenn ein Werk in China als politisch subversiv oder pornografisch zensiert ist, spricht das ja nicht automatisch für seine literarische Qualität! Oftmals sind diese Bücher auch nicht wirklich verboten, sondern in China immer noch erhältlich.    

 

Hat Li Er denn schon einen weiteren Roman in Planung und Sie eine weitere Übersetzung?

Im Moment konzentriere ich mich auf meine interkulturellen Seminare und den Sprachunterricht. Li Er hat sich erst vor kurzem nach längerer Pause bei mir gemeldet. Er arbeitet gerade an seinem dritten Roman, doch wollte er vor einer Veröffentlichung nochmals große Passagen überarbeiten. Also werden wir wohl noch eine Weile auf sein neues Buch warten müssen.

 

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Chabbi!

 

Helen Hübner

 

 

Li Er

Der Granatapfelbaum, der Kirschen trägt

dtv, München 2007

ISBN-10 3423245956

ISBN-13 9783423245951

380 Seiten

 

Li Er

Koloratur

Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009

ISBN-10 3608937943

ISBN-13 9783608937947

440 Seiten

 

 

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雷 - Gewitter

Gewiss kennt jeder das Gefühl "wie vom Blitz getroffen" zu sein. Im alten Chinesisch gibt es eine ähnliche Redewendung: 晴天霹雳. Sie beschreibt einen Blitz an einem sonnigen Tage. Diese Redewendung wird im Alltag negativ benutzt, wenn zum Beispiel ein Freund in einen Unfall geraten ist. Aber es gibt auch bestimmte Momente, in denen man einen ein Ereignis oder eine Geschichte überraschend, absurd, unangenehm oder lächerlich findet und deshalb keinen weiteren Kommentar dazu geben will. Das nennen die jungen Leute nicht mehr Blitz, sondern Gewitter.

Das Gewitter 雷 lei lernt man in den ersten Chinesischlektionen. In einem normalen Kontext ist 雷 ein Substantiv und beschreibt ein Naturphänomen. Aber die Netizens benutzen es als Verb und Adjektiv, um ihre Gefühle ironisch auszudrücken. Ob einem die Situation gefällt oder nicht, alles, was einem erstaunlich erscheint, kann man mit 雷 kommentieren. Die genaue Entstehung dieses Wortgebrauchs kann man schon nicht mehr nachvollziehen. Man weiß nur, dass in manchen Dialekten 雷 als Verb benutzt werden kann und "schlagen" bedeutet .

 

Beispiele:

你看今年中央电视台的春节晚会了吗? 实在是太雷人了啊!

Hast du die Frühlingsfest-Gala von CCTV angesehen? Die war unglaublich schlecht!

 

你看过那个女明星素颜的照片吗?雷死我了!根本都认不出来是她!

Hast du schon mal die Fotos von der Schauspielerin ohne Make Up gesehen? Ich bin wie vom Blitz getroffen! Man kann sie fast nicht erkennen!

 

这个故事太雷了!

Ich kann diese Geschichte kaum glauben!

 

你刚刚的表情好雷啊!

Ich möchte keinen Kommentar zu deinem Gesichtsausdruck von vorhin geben!

 

Xiangling He

 

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Ein Vierteljahrhundert Heidelberger Ostasienwissenschaften

1986 war nicht nur ein Katastrophenjahr, sondern für die Heidelberger Uni ein Neuanfang, der gefeiert werden sollte. Zu dieser Zeit war das Interesse an China und Japan besonders groß. (Vgl. SHAN-NL Nr. 55, August 2011)

 

Umzug von Sinologie und Japanologie

Vor 25 Jahren wurde nicht nur die erste Japanologieprofessur mit Wolfgang Schamoni, sondern auch die nach der Emeritierung von Professor Debon vakante Sinologieprofessur mit Rudolf Wagner besetzt. Zur gleichen Zeit war auch schon die Schaffung einer zweiten (modernen) Sinologieprofessur in die Wege geleitet worden. Die Japanologie befand sich damals in der Landfriedstrasse, die Sinologie in der Sandgasse – beide zogen dann in den neunziger Jahren in die Akademiestrasse in der 1919 die Heidelberger Sinologiegeschichte begonnen hatte. (Vgl. SHAN-NL Nr. 33, Mai 2009)

 

Ostasiatische Kunstgeschichte
 

Wenig veränderte sich damals bei der Ostasiatischen Kunstgeschichte, Professor Seckel (Vgl. SHAN-NL Nr. 55, August 2010) war schon länger emeritiert und weiterhin sehr präsent, sein Nachfolger Lothar Ledderose schon länger im Amt. Sie hatten in einem Altbau am Uniplatz angefangen und zogen später in die Seminarstrasse. Debon, Ledderose, Seckel und Wagner waren alle Kollegen bzw. Schüler von Wolfgang Bauer, der nach seiner Heidelberger Zeit in München unterrichtete. (Vgl. SHAN-NL Nr. 17, Dezember 2007)

 

Dozenten und Studenten

Ein Schüler der alten Professoren, der damals schon selbst unterrichtete, war Lothar Wagner, eine langjährige Sprachlehrerin war Frau Roske, später kamen dann Frau Brexendorff, Frau Stähle und Herr Spaar hinzu. Zu den Studierenden der siebziger und achtziger Jahre gehörten - unter vielen anderen -  Volker Klöpsch, Anne Labitzky, Ulrike Middendorf, Ylva Monschein und Sabine Hieronymus.   

Im folgenden Jahr – 1987 – konnte man dann den 25. Jahrestag der Berufung Wolfgang Bauers und der Neugründung der Heidelberger Sinologie (1962) feiern; damals wurde auch das SAI gegründet.

 

Literatur:

T. Kampen: Sinologie im 20. Jahrhundert: Heidelberg Deutschland International, Heidelberg: Mattes Verlag, 2011.

 

Dr. Thomas Kampen

 

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Nachruf auf Holger Kühnle

 

Holger Kühnle
(23. März 1963 – 28. November 2011)

 

Eines Nachts im Oktober 2007 ist Holger Kühnle aufgrund von starken Rückenschmerzen in der Bibliothek des Seminars für Sinologie der Universität Heidelberg gestürzt. Eine gute Stunde ist er auf dem Boden gelegen, bevor er Hilfe rufen konnte. Das Ereignis führte zur Entdeckung seiner Erkrankung, des Knochenmarkkrebs (Multiples Myelom), der ihn bis zu seinem Lebensende verfolgte.

Er wurde im Klinikum der Universität Heidelberg behandelt. Erholungsphasen und Rückschläge wechselten sich ab. Doch blieb er stets optimistisch seiner Erkrankung gegenüber. In Phasen der vermeintlichen Besserung bis in die letzten Wochen hat er Fachbücher für seine Studien gekauft und an seiner Promotion weiter gearbeitet. Sogar seine Nebenbeschäftigung als Lektor, die er mehr oder weniger freiwillig machte, hat er nicht ruhen lassen. Seine Freunde hörten von ihm kaum, dass es ihm schlecht gegangen wäre. Viele wunderten sich, dass er seit Anfang November 2011 nicht mehr ans Telefon ging. Alle Freunde waren sehr bestürzt, am 27. November von seinem Vater zu hören, dass Holgers Ärzte für ihn das Ende kommen sahen. Viele versuchten noch, ihn zu sehen, aber es gelang nur einer. Kurz vor 14 Uhr am 28. November ist er in der Klinik im Beisein seiner Eltern für immer eingeschlafen.

 

Schulzeit und Studium

Holger Kühnle wurde am 23. März 1963 geboren und ist zusammen mit seiner 1964 geborenen Schwester Ulrike in Worms aufgewachsen. Nach seiner Schulzeit legte er 1982 am Eleonorengymnasium in Worms sein Abitur ab, anschließend absolvierte er den Bundeswehr-Grunddienst in Bad Reichenhall und in Lahnstein.
Danach entschied er sich, das Studium mit klassischer Sinologie als Hauptfach und moderner Sinologie und politischer Wissenschaft als Nebenfächer an der Universität Heidelberg zu beginnen. Seine sinologischen Studien vertiefte er 1987 bis 1988 bei einem Auslandsaufenthalt auf Taiwan. Im Sommersemester 1994 bestand Holger seine Magisterprüfung. In seiner Magisterarbeit, „Die Entdeckung des Erlebnisses im Traum – Über das schriftliche Mitteilen von Träumen bei Su Shi“, befasste er sich intensiv mit Traumberichten des renommierten Politikers und Dichters Su Shi 蘇軾 (1037-1101), dessen Charakter Holger sehr schätzte. 

 

Dissertation

Zwischen 1995 und 2002 hat er Prof. Dr. Rudolf Wagner, Prof. Dr. Catherine V. Yeh und Prof. Dr. Alexander L. Meyer bei mehreren Buchpublikationen assistiert, wobei er im Wintersemester 1995/96 auch stellvertretend als Assistent von Prof. Wagner wirkte.
Es folgten seit 2003 viele Jahre der Vorbereitung seiner Dissertation mit dem Thema „Wie aus einem Text etwas Gelesenes wird“, die er aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr zu Ende bringen konnte. Seine Dissertation behandelt u.a. die Rezeptionsgeschichte des Textes „Zhou Qin xingji 周秦行記“ aus der Tang-Dynastie 唐 (618-907).

 

Erinnerungen an Holger Kühnle

Er beeindruckte zahlreiche Mitglieder des sinologischen Kreises durch sein unwahrscheinlich umfassendes Fachwissen, enzyklopädisches Allgemeinwissen und eine virtuose sprachliche Kunst, sein Wissen zu präsentieren, und nicht zuletzt durch seinen feinen Humor. Außerdem bleibt er in der Erinnerung vieler als ein intensiver Leser in der sinologischen Bibliothek, ein beharrlicher Forscher in der klassischen Sinologie, ein hilfsbereiter Lektor sowie ein engagierter und aufgeschlossener Kollege, der sich regelmäßig in verschiedensten Fachforen und Mailing-Listen (u.a. H-Asia, H-Soz-u-Kult, SINOINFO) zu unterschiedlichsten Themen zu Wort meldete. Da seine nicht fertiggestellte Dissertation bisher in seinem passwortgeschützten Rechner verschlüsselt bleibt, zählen über tausend Bücher zu seinem wichtigsten Nachlass.

Für Holger war die kühne und ungezwungene Literatenfigur Su Shi jemand, mit der er sich in gewissem Maße identifizierte. „Mit Bambusstock und Schilfsandalen [ausgestattet, fiel es mir] leichter als würde ich von einem Pferd [getragen]. Warum soll ich Furcht haben? Mit einem Strohumhang überlasse ich mein ganzes Leben dem diesigen Regen: 竹杖芒鞋輕勝馬, 誰怕? 一簑煙雨任平生“ – seine Lebenszeit lässt sich mit dem obigen Vers Sus porträtieren. Und nun, „ich kehre zurück, vernehme weder Sturm noch Regen: 歸去, 也無風雨也無晴“[1]. 

Um Holger trauern außer den Eltern noch seine Schwester und deren Tochter. Mit seinen Angehörigen erwiesen viele Freunde der Familie und Weggefährten aus dem sinologischen Institut Heidelberg Holger auf dem Hauptfriedhof in Worms die letzte Ehre. Holgers Eltern, seine Schwester und seine Nichte Tatjana empfanden diese Bekundung des Mitgefühls als eine große, wohltuende Geste des Trostes und danken dafür herzlich.

 

SUN Hui (Heidelberg)

 

Anmerkungen: 

[1] Für die obigen zwei Verse siehe Su Shi 蘇軾: „Ding Fengbo 定風波“, in: Dongpo yuefu 東坡樂府. Shanghai: Shanghai Guji Chubanshe 1979, S. 32.

 

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Zuletzt bearbeitet von: AF
Letzte Änderung: 04.12.2014
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