Newsletter Februar 2009 Nr. 30

INHALT

China im Umbau

Chemiestudent Martin Zamoryn hat im WS 04-05 am Propädeutikum des Instituts für Sinologie teilgenommen, war anschließend für ein halbes Jahr an der Shanghai International Studies University, und absolviert zurzeit einen sechsmonatigen Auslandsaufenthalt am College of Chemistry and Molecular Engineering der Peking University. Für SHAN berichtet er vom seinen Erlebnissen in einem Land im Umbruch.

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Chinesische Politiker in Berlin: Die letzten 90 Jahre

Im Januar 2009 besuchte der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao Berlin. Andere chinesische Politiker und Politikerinnen kamen im Verlauf der letzten 90 Jahre nicht nur zu einem kurzen Besuch in der Stadt an der Spree. In den 1920er Jahren lebten frühe KP-Mitglieder wie Zhou Enlai und Zhu De in der deutschen Hauptstadt. Bald darauf folgte Song Qingling, die Witwe des KMT-Gründers Sun Yatsen, die später auch Heidelberg besuchte.

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Rezension: Abrahm Lustgarten – Chinas Grosser Zug. Die Eroberung Tibets durch die höchste Eisenbahn der Welt

"Kann man ein Tal nur über einen hohen Pass erreichen, kommen lediglich die besten Freunde oder die schlimmsten Feinde zu Besuch." Wie viel Wahres mag wohl in diesem tibetischen Sprichwort stecken? Zählen die Han-Chinesen, vertreten durch ihre Regierung, zu den Freunden oder den Feinden? Eine
Antwort bietet der Autor Abrahm Lustgarten in seinem Buch "Chinas Grosser Zug. Die Eroberung Tibets durch die höchste Eisenbahn der Welt" nicht, vielmehr eröffnet er die Möglichkeit, sich selbst ein Bild zu machen.

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China im Umbau

Chemiestudent Martin Zamoryn hat im WS 04-05 am Propädeutikum des Instituts für Sinologie teilgenommen, war anschließend für ein halbes Jahr in an der Shanghai International Studies University, und absolviert zurzeit einen sechsmonatigen Auslandsaufenthalt am College of Chemistry and Molecular Engineering der Peking University. Für SHAN berichtet er von seinen Erlebnissen in einem Land im Umbruch.

In Heidelberg ist die Chemie ein Gebäude mit zwei Stockwerken und Keller; hier in Peking sind es zwei Gebäude mit einmal fünf und einmal neun Etagen und zwei Kellergeschossen. Nachdem mich der Wachmann bei meiner Ankunft schließlich eingelassen hatte, durfte ich meinen Arbeitskreis suchen. Verwundert musste ich dabei feststellen, dass alle Mitarbeiter aus unerfindlichen Gründen ihr gesamtes Hab und Gut in Kisten packten und diese dann wiederum auf den Flur stellten, wo sich schon etliche Möbelstücke, Kisten, Computer und Geräte angesammelt hatten. Schließlich empfing mich ein junger Herr in Jeans, neongelbem T-Shirt und Latexhandschuhen. Wir blickten uns gleichermaßen verstört an. Er war irritiert, dass ich schon da war, und ich war irritiert, dass alle anscheinend im Begriff waren, zu gehen.

Der mich betreuende Professor war gerade auf Dienstreise. Niemand hatte mit meinem Kommen gerechnet. Dennoch waren meine Kommilitonen schnell zur Stelle und redeten auf mich ein. Sie konnten es kaum fassen, dass ich es alleine bis hierher geschafft hatte. Als sie hörten, dass ich mit dem Schiff aus Incheon nach China eingereist war, schien es für sie wie ein regelrechtes Wunder, dass ich überhaupt bis nach Peking gefunden hatte. 

Die Tatsache, dass ich mich auf Chinesisch mit ihnen unterhielt, drang erst ganz allmählich in ihr Bewusstsein; seitdem spricht mich aber eigentlich kein Kommilitone mehr auf Englisch an. Das ist sicher zu meinem Vorteil, und außerdem konnte ich mich so relativ schnell in die Gruppe integrieren. Sie unterhalten sich wie gewohnt, und wenn ich mich am Gespräch beteilige, bin ich voll akzeptiert. Da es anstrengend ist, den ganzen Tag in einer Fremdsprache zu arbeiten, ist meine Aufnahmekapazität für neue Vokabeln und Redewendungen leider etwas begrenzt. Jedenfalls fühlte ich mich schnell nicht mehr nur als exotischer Gast, sondern vielmehr als gerne gesehener Kumpel.

Ständiges Gesprächsthema in unserer Gruppe ist natürlich das bereits erwähnte Kistentürmen. Das Gebäude wird generalsaniert. So hatte ich mir meinen Einstieg in die Chemie in China nicht vorgestellt. Zwar wurde mir angeboten, erst nach dem Umzug wieder zu kommen, aber ich bin dann doch geblieben. Zwei Wochen verschmutzte und vergessene Glassgeräte spülen und Kisten packen – das macht sich sicher auch gut in einer Diplomarbeit. 

Ich nehme am Selbstzahler-Programm des DAAD teil, bei dem es aber durchaus möglich ist, sich zeitgleich für ein anderes Programm des DAAD zu bewerben. Der DAAD ist hier nur der Vermittler, das Geld kommt vom China Scholarship Council (CSC). Das CSC übernimmt zwar die Studiengebühren, aber um die Unterkunft musste ich mich selbst bemühen. Neben dem Laborumzug hatte ich folglich auch meinen eigenen Umzug in die Wege zu leiten, denn bis dato wohnte ich noch in einer Jugendherberge. Meine Kommilitonen haben mir bei der Wohnungssuche im Netz geholfen, und das ganze ging erstaunlich schnell. Jetzt wohne ich in einem Zimmer, dessen Türe ein defektes Schloss hat, in einer Wohnung, bei der Tag und Nacht die Türen offen stehen.

Das ist ganz im Gegensatz zu den Laborräumen. Hier ist ein magnetisches Schloss an der Türe angebracht. Aus irgendeinem Grund blockiert das ganze System aber regelmäßig, und die Türe bleibt verschlossen. Außerdem haben wir nur eine Zugangskarte für zehn Personen. Notfalls muss man dann eben das Sicherheitspersonal bitten, die Türe zu öffnen. Meist bleibt das an mir hängen, da es meinen Kommilitonen etwas peinlich ist. 

Aber Türen öffnen ist ja nicht der eigentliche Auftrag des Wachpersonals. Sie müssen die Bildschirme im Auge behalten, die zu den unzähligen Überwachungskameras in und vor dem Haus gehören. So haben sie immer den vier Meter hohen und sieben Meter breiten Müll- und Sperrmüllhaufen, der wahrscheinlich auch ein Sondermüllhaufen ist, im Auge. Gut bewacht haben sie ihn aber nicht, denn von einem Abend auf den nächsten Morgen war er einfach verschwunden. 

Auf den Bildschirmen kann der Wachdienst auch die Bauarbeiter beobachten. Manch einer steht da ohne jegliche Sicherheitsausrüstung auf der obersten Sprosse einer zweimannshohen Leiter und fummelt, sich in höchste Höhen reckend, an irgendetwas herum. Ein anderer balanciert mit einer Schubkarre drei Meter über ein sich gefährlich stark durchbiegendes, nur fußbreites Brett. Andere stehen auf dem Dach des fünfstöckigen Gebäudes und führen Winkmanöver durch, um mich am Fenster im neunten Stockwerk des anderen Gebäudes zu begrüßen.

Hätte die Universität statt des chinesischen Staatszirkuses fähige Handwerker eingestellt wären die Renovierungsarbeiten vielleicht schon längst beendet. Aber vielleicht ist die lange Bauphase von der Universität auch extra so vorgesehen. So können Gastredner aus dem Ausland beim Kopfeinziehen unter Kabelsträngen und beim Fuß heben über Rohre und Eimer nicht nur sehen, sondern spüren, dass hier in die Forschung investiert wird, und dass es voran geht. Bei manch einem mag da Neid aufkommen. 

Zurzeit sind die räumlichen Möglichkeiten hier nach wie vor sehr eingeschränkt. Der Raum ist zwar groß, aber voll von Kisten. Zwischen diesen Kisten schlängelt sich ein Weg, so breit, dass ihn gerade eine Person begehen kann, und es gibt alle zwei, drei Meter eine Nische zum Warten. Zur Rush Hour befinden sich zehn Personen in diesem Pseudolabor. Irgendwo sind hier auch sämtliche Chemikalien des Arbeitskreises eingekistet. Die Luft ist daher ein wahres Erlebnis für die Nase. Aber übler Gestank wird einfach durch das Verteilen von Wasser auf dem Fußboden oder das Öffnen von Fenstern und Türen vertrieben. So wird dann entweder ein Schmutzfilm im ganzen Haus verteilt, oder aber im Labor wird es bitter kalt.

Forschung bedeutet ja immer auch suchen, und wir sind den ganzen Tag auf der Suche. Wir suchen zuerst die Teile für eine Reaktionsapparatur. Dann suchen wir einen Platz zum Aufstellen. Und zu guter Letzt suchen wir die Chemikalien. Bis dahin sind wir etliche Meter im Kreis gelaufen, haben gestemmt, haben geschoben und gewühlt und manchmal fast gerauft. In diesem Umfeld zeigt sich bei meinen chinesischen Kommilitonen ein erstaunliches Talent zur Improvisation. Manch eine Reaktionsapparatur entspricht nicht so ganz dem, was ich in Deutschland über sicheres Arbeiten im Labor gelernt habe. Immerhin hat der Sicherheitsbeauftragte des Arbeitskreises darauf bestanden, dass wir uns einen Feuerlöscher, eine Löschdecke und einen Eimer mit Sand in den Weg stellen.

Nach der Rückkehr von seiner Dienstreise nahm unser Professor sofort Kontakt mit mir auf. Er eröffnete mir, dass er "quite critical to our students" sei, und "we have a special policy". Unser Arbeitstag beginnt morgens um acht Uhr und endet abends um zehn Uhr. Verständlicherweise werden während der zahlreichen Vorträge häufig Schläfchen eingeschoben. Wir haben zwei Mal ein bis zwei Stunden Essenspause, und wenn wir anderweitig abwesend sein wollen, sollen wir dem Professor Bescheid geben. Auffällig ist, dass ich den Schnitt der Abwesenheit für anderweitige Aktivitäten in unserem Arbeitskreis erheblich anhebe. Unser Professor sieht diese Arbeitsbedingungen als eine Investition in die Zukunft. Gut ausgebildete Leute sind in China gerne gesehen – auch wenn er für Chemiker zur Zeit nicht unbedingt die besten Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt sieht; aber selbst dann kann man ja immer noch seinen Postdoc in den USA machen. Dort sind seiner Aussage nach die Arbeitszeiten an den Universitäten genauso geregelt. 

Auch wenn ich diesen Arbeitszeiten sehr kritisch gegenüber stehe muss ich zugeben, dass meine Kommilitonen sehr fleißig und sehr geschickt sind. Insofern kann es vielleicht tatsächlich passieren, dass China die Vorreiterstellung in der internationalen chemischen Forschung übernimmt, und zwar nicht erst im Jahre 2050, dem Jahr, für das die Regierung die Weltführerschaft in Wissenschaft und Technologie geplant hat. 


Martin Zamoryn

 

 

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Chinesische Politiker in Berlin: Die letzten 90 Jahre

Im Januar 2009 besuchte der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao Berlin. Vor fast neunzig Jahren lebten frühe KP-Mitglieder wie Zhou Enlai und Zhu De in der deutschen Hauptstadt. Bald darauf folgte Song Qingling, die Witwe des KMT-Gründers Sun Yatsen, die später auch Heidelberg besuchte.

Chinesen in Charlottenburg

In den zwanziger Jahren führten die Wege chinesischer Kommunisten oft in die Hauptstadt des Heimatlandes von Marx und Engels; KMT-Mitglieder interessierten sich dagegen eher für den preußischen Militarismus, später auch für den Faschismus. Kurz nach der Gründung der Kommunistischen Internationale, der KPD (1919) und der KP Chinas (1921) entwickelte sich Berlin zur Durchgangsstation und zum Aufenthaltsort vieler westlicher und auch fernöstlicher Revolutionäre. Damals lebten zahlreiche Chinesen in Frankreich, viele wollten nach Moskau, die meisten von ihnen stiegen in Berlin um – oder aus. Neben den günstigen Studienbedingungen waren vor allem die billigen Wohnungen attraktiv.

Der chinesische Trotzkist Zheng Chaolin, der 1923 von Paris nach Moskau fuhr, berichtete in seinen Memoiren Siebzig Jahre Rebell: "Ich wohnte in der Kantstrasse in Charlottenburg. Charlottenburg gehörte zum neuen Berlin. Wollte man in das alte Berlin, mußte man durch einen Wald hindurch; aber es gab eine U- und eine S-Bahn. In Frankreich habe ich nie in einer so schönen Wohnung gewohnt; aber nicht nur ich, sondern alle Studenten haben niemals in Frankreich in einer so hübschen Wohnung gewohnt. Die Vermieterin war eine Offizierswitwe; sie hatte eine Tochter, die jeden Tag in der guten Stube Klavier spielte. Um ihr Einkommen aufzubessern, vermieteten sie die besten Zimmer an Ausländer."

Zhou Enlai und Zhu De

Zu den prominentesten chinesischen Kommunisten in Berlin gehörten der spätere Ministerpräsident Zhou Enlai und der Armeeführer Zhu De. Anfang der zwanziger Jahre wurde in Frankreich die erste europäische Organisation der chinesischen Kommunisten gegründet und 1922 traf auch Zhou Enlai mit einigen anderen Chinesen in Berlin ein. Zhou Enlai, der vorher schon Japan, England und Frankreich besucht hatte, ließ sich zunächst in Wilmersdorf nieder; er gab eine revolutionäre Zeitschrift heraus und amüsierte sich an den umliegenden Seen. Im folgenden Jahr traf dann auch Zhu De in Berlin ein und wurde durch Vermittlung Zhous KP-Mitglied. 1924 verließ Zhou Enlai die Hauptstadt wieder und kehrte in die Heimat zurück. Im folgenden Jahr wurde Zhu De nach Teilnahme an einer Demonstration ausgewiesen und ging nach Moskau. Zehn Jahre danach begaben sich Politkommissar Zhou Enlai und General Zhu De – mit Mao Zedong – auf den Langen Marsch.

KPD und Komintern

Als 1925 die chinesische Revolutionsbewegung einen Höhepunkt erreichte, begannen sich die KPD und die Internationale Arbeiterhilfe für China zu interessieren. Im August des Jahres organisierte der KPD-Funktionär und IAH-Chef Willi Münzenberg in Berlin einen Kongreß unter dem Motto "Hände weg von China"; dieser war der Höhepunkt der ersten Chinakampagne der IAH, die die Revolutionsbewegung in China unterstützen sollte. Der Münzenberg-Konzern verbreitete damals Publikationen mit den Titeln Die kapitalistische Hölle in China und Das kämpfende China; in seinen Zeitschriften und Zeitungen – wie z.B. Arbeiter Illustrierte Zeitung, Berlin am Morgen und Welt am Abend – erschienen häufig Artikel über China. Zu dieser Zeit hielten sich schon Dutzende von chinesischen Kommunisten in Deutschland auf und arbeiteten mit der IAH und KPD zusammen. Münzenberg war mit "dem jungen und eifrigen Liau", befreundet. Liau Hansin war ein Bekannter Mao Zedongs und stammte aus dessen Heimatprovinz Hunan. Er war 1922 der KP Chinas beigetreten, im gleichen Jahr nach Berlin gereist und arbeitete dort für die KP und die Komintern. Er schrieb für verschiedene Zeitschriften und die Internationale Pressekorrespondenz.

Von Berlin nach Brüssel

Im Februar 1927 organisierten Münzenberg und Liau (in Brüssel) den "Kongreß gegen koloniale Unterdrückung und Imperialismus", an dem mehr als 170 Delegierte aus vier Kontinenten teilnahmen. Die chinesische Revolution war das wichtigste Thema und Liau einer der Hauptredner. Ein weiterer Teilnehmer war Karl August Wittfogel, der prominenteste China-Experte der KPD, mit dem Liau damals zusammen arbeitete. Das Hauptergebnis des Kongresses war die Gründung der Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit, einer frühen NGO. Liau, Münzenberg und der Inder Nehru wurden Mitglieder des Exekutivkomitees; die Zentrale war in Berlin.

Ein weiterer chinesischer Konferenzteilnehmer war der ebenfalls in Berlin lebende Xie Weijin, der nach Liaus Abreise nach Moskau (1928) einige seiner Aufgaben übernahm und mit dem KPD-Führer Thälmann Kontakt hatte. Xie war ausserdem mit Egon Erwin Kisch befreundet und soll 1932 dessen Reise nach China organisiert haben; im Januar 1933 erschien dann Kischs Buch China geheim, wurde jedoch bald verboten. Xie Weijin war der Vater des in Berlin geborenen Han Sen (der vor einigen Jahren in Deutschland seine Memoiren Ein Chinese mit dem Kontrabaß veröffentlichte). Xie Weijin blieb bis 1933 in Deutschland, floh dann in die Schweiz und nahm ab 1936 am Spanischen Bürgerkrieg teil; 1940 kehrte die ganze Familie nach China zurück.

Song Qingling und Anna Seghers

Zu den prominentesten Berlinreisenden gehörte Ende der zwanziger Jahre Song Qingling. Sie war die Witwe des 1925 verstorbenen Revolutionärs Sun Yatsen, der 1911 maßgeblich am Sturz des Kaiserreichs beteiligt gewesen war. Nach der Niederschlagung der chinesischen Revolutionsbewegung im Sommer 1927 war sie zunächst nach Moskau und dann nach Berlin geflohen. Sie war mit Münzenberg und einigen anderen deutschen Kommunisten befreundet und blieb bis 1932 in Deutschland. Ihre Freundin und zeitweilige Sekretärin war Hu Lanqi, eine Kommunistin, die wie Zhu De und Xie Weijin aus der Provinz Sichuan (Sezuan) stammte. Hu Lanqi lernte damals in Berlin auch Clara Zetkin und Anna Seghers kennen. Hu Lanqi wurde 1933 von den Nazis verhaftet und dann ausgewiesen; sie flüchtete nach Paris und reiste später nach Moskau.

Anfang der dreissiger Jahre lernte Hu Lanqi in Berlin noch Wang Bingnan kennen, der damals in Berlin studierte. Wang blieb bis 1936, heiratete dann Anna Wang (die Autorin des Buches Ich kämpfte für Mao) und reiste mit ihr mit der Transsibirischen Eisenbahn nach China. Wang Bingnan war in den fünfziger Jahren Botschafter der VR China in Polen.

Von Beijing nach Berlin

Nach der Gründung der Volksrepublik China (1949) besuchte der neue Ministerpräsident Zhou Enlai 1954 die "Hauptstadt der DDR", Armeeführer Zhu De fuhr zum 80. Geburtstag von Wilhelm Pieck (1956) nach (Ost-)Berlin. Da die Bundesrepublik in den fünfziger und sechziger Jahren weder mit der Volksrepublik China noch mit Taiwan diplomatische Beziehungen unterhielt, gab es lange Zeit keine hochrangigen Besuche; ab 1972 reisten chinesische Politiker meist zum Regierungssitz Bonn. Der erste hochrangige Besucher der DDR-Hauptstadt nach der Kulturrevolution war 1987 Zhao Ziyang. In den neunziger Jahren besuchte Ministerpräsident Li Peng Berlin, später folgten auch Zhu Rongji, Jiang Zemin und Hu Jintao.

Der gegenwärtige Ministerpräsident Wen Jiabao, der – wie Parteichef Hu Jintao – während des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, konnte als Student nicht ins Ausland gehen; da in den sechziger Jahren die Beziehungen zu den Ostblockländern abgebrochen und die diplomatischen Beziehungen zu den meisten westeuropäischen Staaten erst in den siebziger Jahren aufgenommen wurden, gab es für Wens Generation wenig Gelegenheiten für Auslandsaufenthalte. Als Ministerpräsident ist Wen allerdings schon mehrfach in Deutschland und Berlin gewesen, daher war sein jetziger Besuch hier sehr kurz; er wollte noch nach Brüssel.

Literatur:

Egon Erwin Kisch: China geheim, Berlin, 1932.
Anna Wang: Ich kämpfte für Mao, Hamburg, 1964, 1973.
Hu Lanqi: Hu Lanqi huiyilu, Chengdu, 1985.
Zheng Chaolin: Siebzig Jahre Rebell, Frankfurt, 1991.
Christiane Zehl Romero: Anna Seghers – Eine Biographie 1900-1947, Berlin: Aufbau Verlag, 2000.
Han Sen: Ein Chinese mit dem Kontrabass, München, 2001.
Thomas Kampen: "Chinese Communists in Austria and Germany and their later activities in China", in: Asian and African Studies, 2007, XI.


Dr. Thomas Kampen

 

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Rezension: Abrahm Lustgarten – Chinas Grosser Zug. Die Eroberung Tibets durch die höchste Eisenbahn der Welt

"Kann man ein Tal nur über einen hohen Pass erreichen, kommen lediglich die besten Freunde oder die schlimmsten Feinde zu Besuch."

Wie viel Wahres mag wohl in diesem tibetischen Sprichwort stecken? Zählen die Han-Chinesen, vertreten durch ihre Regierung, zu den Freunden oder den Feinden? Eine Antwort bietet der Autor Abrahm Lustgarten in seinem Buch Chinas Grosser Zug. Die Eroberung Tibets durch die höchste Eisenbahn der Welt nicht, vielmehr eröffnet er die Möglichkeit, sich selbst ein Bild zu machen. Eindrucksvoll schildert der Journalist auf 381 Seiten in drei thematischen Blöcken die politisch-historischen Fakten des Planungsprozesses, die persönlichen Querelen und klimatischen Widerstände beim Bau der Eisenbahn, sowie Erwartungen und Auswirkungen nach der Freigabe der T 27 -Linie.

Lustgarten beginnt mit den Eindrücken, die ihm das heutige schnelllebige, moderne und leuchtreklamenversetzte Peking bietet. Er leitet im Unterkapitel "Die Zeit ist Reif" aus dem präsentierten wirtschaftlichen Wachstum und Wohlstand seine erste These für den Bau der Eisenbahn ab: Wohlstand führe zu Expansionsbestrebungen und damit zur Ausbreitung der Infrastruktur. Ferner sei die tibetische Nähe zu Indien und Nepal der vergangenen fünf Jahrzehnte aus chinesischer Sicht "ein absolut unerträglicher Zustand". Zu Möglichkeit und Machtdemonstration geselle sich als dritter Grund der Zugang und die Förderung von bisher unerschlossenen Bodenschätzen hinzu.

Gegen die guten Gründe für einen Streckenausbau, dessen Pläne die Volksbefreiungsarmee erstmals nach ihrem Einmarsch in Lhasa 1951 präsentierte, sprachen jedoch lange Zeit Probleme wie Geldmangel, Verlust der politischen Wichtigkeit, Hungersnöte und scheinbar unüberwindbare Hindernisse technischer und geographisch-klimatischer Art. Als die Realisierung des Projektes kaum noch glaubhaft schien, bewies der Ingenieur Zhang Luxin, der einen Großteil seines Lebens mit der Erforschung der Bodenbeschaffenheit und Planung der Streckenabschnitte verbracht hatte, seinen langen Atem und warb für die Notwendigkeit der schwierigen Umsetzung. 2000 dann wurde schließlich der Bau der Strecke beschlossen. Die politischen Hürden waren zwar aus dem Weg geräumt, doch nun traten die technischen Probleme in den Vordergrund. Frost und Kälteeinbrüche machten sowohl der Technik als auch den Arbeitern zu schaffen, wobei letztere zusätzlich unter Höhenkrankheit zu leiden hatten.

Lustgarten unterfüttert diese Entwicklung durch Erfahrungen tibetischer Zeitzeugen und vom Bau Betroffener. So zeichnet er ohne Verlust der politischen Komponente ein Bild der Kindheitserinnerungen eines Tibeters an seine ersten Kontakte mit den Han-Chinesen. Kritisch gegenüber der chinesischen Modernisierungspolitik, jedoch nicht unreflektiert, stellt Lustgarten einerseits die Reaktionen auf die Gräueltaten der Volksbefreiungsarmee in den 50er Jahren und andererseits die Freude am Fortschritt und dem Gefallen daran, mit dem eigenen Auto nach Tsurphu zu fahren, dar.

Mit dem Startschuss zum Bau der Eisenbahn mehrten sich die Ängste der Tibeter vor dem Verlust ihrer kulturellen Identität oder dem Arbeitsverlust durch die diebischen Wanderarbeiter: "So viele arme Leute werden hier auftauchen, da werden wir es verstärkt mit Straßenraub zu tun bekommen". Die han-chinesischen Wanderarbeiter ihrerseits kamen mit Hoffnungen auf Ansiedlung, feste Arbeit und Teilhabe am Wohlstand. Fakten und Daten liefert Lustgarten im Kapitel "Als Familie Wang in die Stadt kam", ebenso die nahezu fatalistische Einstellung Wang Lins gegenüber dem ungewissen Geschäftsleben: "Wir Geschäftsleute sind wie die Wasserlilie […] Wir folgen der Strömung, wohin auch immer der Fluss uns führt".In der Gegenwart begonnen, endet Lustgartens Beschreibung über Chinas großen Zug – wie könnte es anders sein – mit den eigenen Eindrücken der höchsten Bahnfahrt, auf der man gerne mal in Gespräche über die Zukunft verstrickt wird. Und so gipfeln die Gedanken der Mitreisenden in den Lasten der Globalisierung und dem Ende der Subventionen: "Eines Tages wird der große Aufschwung vorbei sei. Daran führt kein Weg vorbei". Ebenso wenig wie für Bahn-Interessierte der Weg an diesem Buch vorbeiführt.

Lustgarten, der neben Journalismus auch Anthropologie studiert und bereits für namhafte amerikanische Zeitungen gearbeitet hat, liefert eine historische Betrachtung des 50jährigen chinesischen Eisenbahnbaus nach Tibet mit einer Betonung technologischer Innovation und politischer Entwicklungen, aufgearbeitet als ausführliche Reportage und untermalt mit vielen historischen Sachinformationen zu Politik und Gesellschaft, sowie bereichert durch spannende Perspektivenwechsel. Ein journalistischer Schreibstil nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die chinesische Geschichte in die Hochebene Tibets. 35 Bilder illustrieren die beschriebenen Eindrücke der Bauarbeiten, der Landschaft sowie einzelner Personen.


Josie-Marie Perkuhn

 

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Zuletzt bearbeitet von: AF
Letzte Änderung: 04.12.2014
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